Misrachim

Israel und die Orientalen

Jüdische Gläubige feiern Lag BaOmer vor der La-Ghriba-Synagoge der tunisischen Insel Djerba. Foto: picture alliance/dpa

Obwohl die Geschichte der jüdischen Diaspora im Nahen Osten und Nordafrika Tausende von Jahren zurückreicht, und obwohl ihr prozentualer Anteil heute über die Hälfte der jüdischen Israelis ausmacht, werden sie immer noch wie ein unbedeutender Nebenzweig der jüdischen Geschichte behandelt: die Misrachim (hebräisch: Orientalen), also die Jüdinnen und Juden mit Wurzeln in der islamischen Welt, waren vor Kurzem Thema eines gemeinsamen Workshops, ausgerichtet von der Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden in Deutschland, der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg und dem Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES).

Warum lohnt sich der Blick auf die Geschichte der nahöstlichen Juden? Die einseitige Fixierung auf europäisch-jüdische Geschichte (in progressiv-jüdischen Milieus in den USA bisweilen als »Aschkenormativität« bezeichnet), die weiterhin das Forschungsfeld der Jüdischen Studien bestimmt, verkennt die Tatsache, dass wichtige Denkerinnen und Denker der jüdischen Geschichte eben nicht in Berlin, Warschau und Odessa lebten, sondern in Bagdad, Kairo und Tunis.

Jüdische Denker lebten nicht nur in Europa, sondern auch in Bagdad, Kairo und Tunis.

Die Geschichte des nahöstlichen Judentums umfasst die Entstehung des Babylonischen Talmuds im heutigen Irak, die babylonischen Geonim des Frühmittelalters wie Saadia Gaon, die sefardischen Philosophen des muslimischen Spanien wie der Rambam, Mosche ben Maimon (Maimonides) – und reicht von der Has­kala-Rezeption im jüdischen Nordafrika der frühen Neuzeit bis hin zur ägyptisch-jüdischen Vordenkerin der israelischen Levantinisierung im 20. Jahrhundert, Jacqueline Kahanoff. Kurz gesagt: Jüdische Geschichte ist viel mehr als die Geschichte von Aschkenas – und wer die heutige israelische Gesellschaft verstehen will, kommt am nahöstlichen Judentum nicht vorbei.

Vertreibung Der hebräische Begriff »Misrachim« markiert dabei bereits den Übergang vom Judentum der islamischen Welt hin zur Migrations- und Fluchtgeschichte dieser sehr verschiedenen Gruppen in den Staat Israel: Als »Orientalen« wurden im jungen Staat Israel äußerst unterschiedliche Gemeinschaften zusammengeworfen, die sich vor ihrer Flucht, Vertreibung und Einwanderung nach Israel nicht unbedingt als eine einheitliche Gruppe verstanden hätten.

Mit dem »Orient« wurden hier in erster Linie all jene markiert, die nicht mit dem aschkenasischen Judentum verbunden waren – ganz gleich, ob die jüdischen Neueinwanderer zu Hause Arabisch, Persisch, Türkisch, Kurdisch, Aramäisch, Tamazight oder Ladino sprachen.

Bis heute ist der Begriff »Misrachim« daher politisch aufgeladen und umstritten: Einige Israelis mit irakisch-jüdischen Wurzeln würden sich viel lieber als arabische Juden beschreiben, auch wenn sie vom arabischen Nationalismus im Irak gerade nicht als Araber behandelt wurden; die Ladino-sprachigen Sefarden aus der Türkei bezeichneten sich im jungen Staat Israel dagegen als Turkinos und waren fest davon überzeugt, dass sie – schon aufgrund ihrer Herkunft aus der modernen, kemalistischen Türkei – doch bitte nicht mit dem Judentum der arabischen Welt in eine Kategorie geworfen werden sollten.

diskurs Im israelischen Diskurs vermischen sich dabei zunehmend die Begriffe »Misrachim« und »Sefardim«, auch wenn die 1492 aus Spanien vertriebenen Juden in vielen Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas ein ganz eigenes Leben führten, nicht zuletzt in Marokko sprachlich-kulturell getrennt von den arabisch- oder berbersprachigen jüdischen Gemeinden.

Mit dem Anbruch der Moderne im Osmanischen Reich und mit der Expansion des europäischen Kolonialismus kam es dabei zu weitgehenden Umwälzungen für die jüdischen Gemeinden des Nahen Ostens und Nordafrikas: Das diskriminierende Minderheitenstatut für die nicht-muslimischen »Schutzbefohlenen«, die Ahl al-Dhimma, wurde vielerorts abgeschafft und mit modernen Formen von imperialer oder kolonialer Staatsbürgerschaft ersetzt.

Gleichzeitig emanzipierten sich die jüdischen Gemeinden, oft angeleitet und unterstützt von europäisch-jüdischen Vereinigungen wie der Alliance Israélite Universelle, die in Nordafrika und im Nahen Osten ein breites Netz von französischsprachigen jüdischen Schulen unterhielt.

emanzipation Die Emanzipation des nahöstlichen Judentums konnte dabei ganz unterschiedliche Formen annehmen – von der begeisterten Übernahme europäisch-jüdischer Kultur über das bewusste Engagement für eine gleichberechtigte Staatsbürgerschaft im Osmanischen Reich bis hin zur zionistischen Bewegung.

Der osmanisch-sefardische Rabbiner Judah Alkalai, der Mitte des 19. Jahrhunderts einen religiös geprägten Proto-Zionismus entwickelte, wurde dabei prägend für Theodor Herzl: In seinen Texten vermischten sich endzeitlich-messianische Formen einer traditionellen Zionssehnsucht mit sehr modernen Elementen von Staats- und Nationenbildung, darunter die Schaffung einer gemeinsamen Nationalversammlung, die Rückkehr zur he­b­räischen Sprache, den systematischen Landkauf und die Schaffung einer jüdischen Landwirtschaft im Land Israel.

Auch wenn das nahöstliche Judentum nie denselben politischen Einfluss besaß wie der aschkenasische Zionismus: Die erste zionistische Organisation Ägyptens entstand bereits 1897; an allen zionistischen Kongressen waren nahöstlich-jüdische Vertreter beteiligt – und wichtige Reformvorschläge für das zionistische Projekt kamen (gerade während der britischen Mandatszeit) nicht zuletzt aus den Reihen der arabischsprachigen jüdischen Gemeinschaft, motiviert auch durch ihre enge Verbundenheit mit der Region des Nahen Ostens und mit der arabischen Sprache.

KOLONIALPOLITIK Der Wendepunkt für jüdisches Leben im modernen Nahen Osten und Nordafrika kam dabei mit dem Scheitern der britischen Kolonialpolitik: Großbritannien verbündete sich im Ersten Weltkrieg gleichzeitig mit dem arabischen Nationalismus und dem Zionismus – und verriet am Ende beide Allianzpartner, um stattdessen einen Interessensausgleich mit Frankreich zu suchen.

Mit dem Auseinanderbrechen der jüdisch-arabischen Beziehungen im Land Israel/Palästina unter britischer Herrschaft spitzte sich auch in anderen Ländern die Lage der nahöstlichen Juden zu. In Ländern wie Ägypten oder Syrien, wo es frühzeitig islamistische oder arabisch-nationalistische Bewegungen gab, die sich mit den palästinensischen Arabern solidarisierten, kam es dabei früher als in anderen Ländern zu antijüdischen Unruhen. Im Irak, einer wichtigen Heimat des modernen arabischen Nationalismus, kam es 1942 sogar zu einem vom Nationalsozialismus inspirierten Aufstand gegen die britische Herrschaft und einem Pogrom (»Farhud«) mit Hunderten von jüdischen Toten und Verletzten.

Ähnlich wie beim britischen Teilungsplan für Indien und Pakistan endet auch in Britisch-Palästina das Projekt einer politischen Teilung (hier ein jüdischer Staat, dort ein arabischer Staat) in Flucht, Vertreibung und Bevölkerungsaustausch: Während sich Hunderttausende arabische Palästina-Flüchtlinge in Israels Nachbarstaaten niederlassen müssen, kommen ähnlich große Zahlen von nahöstlichen Juden nach Israel, teilweise angezogen vom zionistischen Projekt, teilweise zur Auswanderung gezwungen, teilweise unter politischem Druck vertrieben.

gemeinschaften Mit der minderheitenfeindlichen Politik der Türkei und der Islamischen Revolution im Iran schmolzen auch hier die jüdischen Gemeinschaften. Bis heute sind die größten nahöstlich-jüdischen Gemeinden in nicht-arabischen Ländern zu finden (Türkei: rund 15.000, Iran: 9000); die Gemeinschaften in Marokko (2250) und Tunesien (1000) werden einerseits politisch protegiert, andererseits besitzen viele ihrer Mitglieder bereits einen zweiten Pass und bereiten sich auf ein mögliches Leben in Frankreich oder Israel vor.

Bis heute ist der Begriff »Misrachim« politisch aufgeladen.

In Israel selbst war das Ankommen in der neuen jüdischen Gesellschaft schwieriger als gedacht: Die Gründungseliten, die noch vor Kurzem in Europa selbst als »Orientale« ausgegrenzt wurden, träumten vom jüdischen Nationalstaat als einer westlich-europäischen Gesellschaft – und hatten häufig allzu wenig Sympathie für die Neuankömmlinge aus ganz anderen kulturellen Kontexten.

aufstieg Nahöstliche Juden besaßen anfangs nur wenige ökonomische oder militärische Aufstiegschancen; sie wurden bewusst als Wehrbevölkerung in der Peripherie des Landes angesiedelt – und erst mit dem Mahapach (hebräisch: Wende), also dem Wahlsieg der israelischen Rechten 1977, begann der Aufstieg einer nahöstlich-jüdischen Mittelschicht in Israel, die sich zunehmend zu ihrem kulturellen Erbe bekennt.

Bis heute sind die Misrachim daher die Stütze der israelischen Rechten – und selbst der derzeitige Kampf um Israels Demokratie wird von den Rechtspopulisten um Netanjahu als vermeintlicher Kampf zwischen einer aschkenasischen Elite und einer misrachischen Peripherie dargestellt, auch wenn es hier viel eher um den Machterhalt des allzu aschkenasischen Netanjahu-Clans gehen dürfte.

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