Julia Franck

»In uns ist eine Stärke und Kraft«

Wurde für »Die Mittagsfrau« (2007) mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet: Julia Franck Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild

Frau Franck, Ihre früheren Bücher sind Romane. In Ihrem neuen Buch »Welten auseinander« geht es um Ihre eigene Familie. Muss man ein bestimmtes Alter erreicht haben, um so autofiktional zu schreiben?
Ja, um diese Art der Familiengeschichte schreiben zu können, die auch so viel Widersprüchliches, so viel Schmerz und Verlust in sich enthält, ist es für mich tatsächlich wichtig gewesen, älter zu werden.

Sie, Ihre Mutter und Ihre Schwestern teilen eine Geschichte, aber zwischen den einzelnen Erinnerungen liegen Welten. War Ihre Familie damit einverstanden, dass Sie so offen über Ihre Erinnerungen schreiben? Ist das nicht riskant?
Natürlich ist das auch riskant, weil die Offenlegung und das Schreiben über bestimmte Ereignisse auch in anderen Familienangehörigen so etwas wie Scham erzeugen kann. Ein einfaches Beispiel ist, dass ich relativ offen über die Vergangenheit meiner Großmutter Ingeborg Hunzinger schreibe und deutlich mache, in welcher Weise sie mit der Staatssicherheit kooperiert hat. Trotzdem wäre es für mich unmöglich gewesen, über dieses Detail zu schweigen. Denn wenn man sich einmal auf die Suche und die Recherche macht und über die mündlich überlieferten Erinnerungen der jeweiligen Menschen hinaus auch in Archiven recherchiert, liest und sich darüber ein Bild machen kann, wie derselbe Mensch, der einst Repressionen erfahren hat, in »bester Absicht«, ein besseres Deutschland entstehen zu lassen, sich nach dem Krieg mit den Geheimdiensten zusammentut und in der eigenen privaten Wohnung an einen Spion der Staatssicherheit für konspirative Zusammenkünfte untervermietet, dann ist ein solches Detail für mich nicht zu verleugnen.

Über Ihre alleinerziehende Mutter, die 1978 mit Ihnen und drei Ihrer Schwestern die DDR verlassen hat, schreiben Sie: »Vielleicht empfand ich meinen Nutzen für Sie als Kind am ehesten darin, Gefäß ihrer Trauer und ihres Schmerzes zu sein.« Das klingt sehr abgeklärt. Konnten Sie den Schmerz Ihrer Kindheit durch das Schreiben überwinden?
Ich habe ihn erträglicher gemacht für mich, und dazu gehört das Gegengewicht: Liebe und der Wunsch nach Verstehen. So konnte ich über den Schmerz, aber auch den Mut der Mütter in unserer Familie schreiben. Meine Urgroßmutter Lotte hat ihren Eltern die Stirn geboten, nicht innerhalb ihrer Religion, des Judentums, zu heiraten, sondern einen Goj. Aus einem religiösen Kontext heraus war das in ihrer Zeit ungeheuer mutig – ganz anders als heute in Berlin.

Sie haben eine dezidiert jüdische Familiengeschichte – ohne sich diese ans Revers zu heften. Anders als Autoren, die einen jüdischen Großvater oder Urgroßvater »ausgraben« und dann eine betont jüdische Geschichte erzählen. Sie hingegen schreiben: »Wer wird schon mit einer Identität geboren. Eher wachsen wir in die Gesellschaft und die Verantwortung hinein.«
Eine Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gemeinschaft oder einer Religionsgemeinschaft ist nicht etwas, was wir uns aussuchen oder ausdenken. Aber wir können uns damit auseinandersetzen, was es für uns bedeutet. Es schadet ja nichts, wenn sich jemand, der einen jüdischen Großvater oder Urgroßvater hatte, mit dem Judentum beschäftigt oder vielleicht sogar konvertiert, wenn es denn der väterliche Großvater war. Ich finde es aber befremdlich, welche Etiketten sich Leute anheften, um damit vielleicht einfach nur Aufmerksamkeit zu erregen. Dahinter steht sicherlich ein Interesse. Es wäre natürlich schöner, das Interesse selbst würde gelebt, als dass man nur über Etiketten miteinander verhandelt.

Wie haben Sie sich mit dem Judentum auseinandergesetzt? Sie und Ihre Schwester wurden als Kind getauft. Ich nehme an, jüdische Feiertage spielten keine Rolle …
Nein, jüdische Feiertage haben zunächst in unserer Kindheit keine Rolle gespielt. Allerdings christliche auch nicht. Ich habe mich in meinem späteren Leben immer wieder mit dem Judentum beschäftigt, weil es mich nicht losgelassen hat, dass ich mich nicht als Teil einer christlichen Gemeinschaft fühlen konnte. Die Christengemeinschaft, zu der meine Mutter uns Mitte der 70er-Jahren brachte, habe ich als aufregend und spannend empfunden, und die Geschichten aus der Bibel habe ich sehr gerne gelesen. Aber ich konnte keinen Glauben und keine dazugehörigen Rituale entwickeln. Alles Religiöse galt in der DDR als Opposition, ein Gegenentwurf zum totalitären Staat. Schon als Jugendliche bin ich öfter mit meiner Tante in die Synagoge gekommen und habe zum ersten Mal jüdische Gottesdienste erlebt. Meine Tante und meine Großmutter sind unmittelbar nach dem Mauerfall Gemeindemitglied der Jüdischen Gemeinde geworden. Als meine eigenen Kinder geboren wurden, habe ich ihnen mehr über die jüdische Religion erzählt und auch die jüdischen Feste mit ihnen ein bisschen gefeiert. Wir sind – wenn auch selten – in die Synagoge gegangen. Vielleicht hat das dazu geführt, dass mein Sohn unbedingt Hebräisch lernen und wenig später auf die Jüdische Oberschule gehen wollte. Er wurde Barmizwa, dank Rabbiner Tuvia Ben-Chorin war das möglich, ohne dass ich selbst Gemeindemitglied wurde. Ich habe ihm alle Unterlagen vom Zentralrat sowie Geburtsurkunden über Generationen beigebracht und konnte ihm auch die Umstände darlegen, unter denen meine Mutter 1943 getauft wurde. Das war für im Versteck geborene Juden üblich, um die jüdische Herkunft zu verschleiern.

In Ihrem Buch klingt eine starke Sensibilität gegenüber Themen an, die Juden betreffen, auch wenn Judentum in Ihrer Familie nicht praktiziert wurde. Zum Beispiel, als Ihr Biologielehrer rassistische Bemerkungen machte …
… erinnern sie mich an den Antisemitismus der nationalsozialistischen Lehrer meiner Großmutter und ihrer Geschwister. Meine Urgroßmutter Lotte, die ich noch sehr gut kannte, ist erst 1984 gestorben. Sie war für die ganze Familie die matriarchale Gestalt. Ihr ältester Sohn, der 1938 nach Amerika emigriert war, hielt bei ihrer Beerdigung mit amerikanischem Akzent eine Rede. Einer der Verwandten fand danach ein silbernes Becherchen und fragte, ob es der Taufbecher von Lotte gewesen sei. Andere Verwandte und ich wussten natürlich, dass es der Kidduschbecher war. Auch solche Erfahrungen – Überlieferung, Vergessen, Deuten – sind für mich Anreiz, mich mit der jüdischen Geschichte meiner Familie zu beschäftigen. Und ich bin froh, dass mein Sohn über die Sprache auch einen Weg in die Religion wiedergefunden hat. Es macht mich glücklich, von den Kindern zu lernen.

Sie schreiben über so viele Widrigkeiten, dass man sich fragt, wie Sie all das bewältigt haben: ein sehr unbehütetes Aufwachsen zwischen Ost- und Westdeutschland, der frühe Tod Ihres Vaters und der tödliche Verkehrsunfall von Stephan, Ihrer ersten großen Liebe. Was hat Sie gerettet?
Das ist eine schwierige Frage. In Wahrheit weiß ich es nicht. Ich denke, in uns ist eine Stärke und Kraft, Dinge überleben zu können, die wir uns nicht aussuchen können. Vielleicht ist es ein Zusammenkommen von Umständen und Begegnungen mit Menschen, die mir sehr viel Stärke, aber auch Widerspruch geben konnten – Menschen wie Stephan, meine erste große Liebe, der mich selbst über seinen Tod hinaus kraft seiner Liebe stark genug gemacht hat. Das klingt vielleicht pathetisch, aber es ist auch banal. Andere in meiner Familie haben diese Widersprüche oder das Aufwachsen in dieser zerrissenen Familie nicht überlebt.

Wie hat es Ihre Zwillingsschwester erlebt? Sie ist bei Ihrer Mutter geblieben, während Sie mit 13 ausgezogen sind.
Ich kann mir nicht anmaßen, für sie zu antworten. Während der eine über bestimmte Erfahrungen lieber schweigt, hat ein anderer das Bedürfnis, darüber zu schreiben.

Sie haben seit 2011 keine Bücher veröffentlicht, sondern Medizin studiert …
Das war ein alter Traum von mir. So habe ich tatsächlich drei Semester an der Charité studiert. Aber die Stundenpläne reichten bis in den späten Abend, es wurde sehr raumgreifend, und ich wollte Zeit für meine Kinder haben.

Am Ende von »Welten auseinander« sind Sie 23 Jahre alt. Wird es eine Fortsetzung dieser autofiktionalen Erzählung geben?
Im Augenblick kann ich mir das nicht vorstellen. Auch deshalb, weil ich erst nach 1993, nach Stephans Tod, angefangen habe, literarisch zu schreiben und zu veröffentlichen. Das Tagebuchschreiben, das mich in meiner Kindheit rettete, hat mit der Geburt meiner beiden Kinder um die Jahrtausendwende ganz aufgehört. Das Erfinden ist aufregend. Ich möchte mir die nächsten Bücher lieber wieder als Romane vorstellen.

Mit der Schriftstellerin sprach Ayala Goldmann. Julia Franck: »Welten auseinander«. Fischer, Frankfurt/Main 2021, 368 S., 23 €

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