Literatur

In the Ghetto

Es war in der Jeschiwa. Ein Buch fiel zu Boden, und der Junge – erzogen im Respekt für die Texte und das Wort – hob es auf und wollte den Einband, der Tradition gemäß, küssen. Da blätterten die Seiten auf, sodass der Junge zu seinem Erstaunen plötzlich etwas bislang Unbekanntes erblickte: Reime und Verse. Zufällig hielt er ein Buch von Chaim Nachman Bialik in den Händen, dem Vater der hebräischen Moderne.

mea schearim Das geschah vor etwa sechs Jahrzehnten in Mea Schearim. Inzwischen ist Asher Reich, der damalige Protagonist dieser Geschichte, selbst einer der profiliertesten Erzähler und Lyriker Israels. In seinem jüngsten, bei S. Fischer auf Deutsch übersetzten Erzählband Ein Mann mit einer Tür spielen sämtliche Geschichten in jenem Jerusalemer ultraorthodoxen Viertel, in dem er aufgewachsen ist.

Wer in dem Buch allerdings jene Genre-Pinselei erwartet, wie sie in Deutschland vor allem von gefühligen Nichtjuden goutiert wird – idyllisches Schtetl, Gelehrsamkeit und Kerzenschein, während im Hintergrund ein Klezmer fiedelt –, wird nicht auf seine Kosten kommen. »Die Welt, in der ich aufgewachsen bin – nach dem frühen Tod des Vaters vor allem zusammen mit meiner fordernden und abergläubischen Mutter –, war in ihrer müffelnden Enge weder hell noch dunkel«, sagt Asher Reich mit fröhlicher Stimme, während wir uns in einem Café am Prager Platz in Berlin-Wilmersdorf mit Glühwein gegen die Herbstkälte wappnen. »Sie war interessanterweise wohl nicht einmal eindeutig jüdisch-orthodox, denn die vielen Bannsprüche, die Kräutersuds und Riten gegen allerlei Unglück und Gebrechen kamen ja nicht aus den Texten, sondern aus den tiefsten, irrationalsten Winkeln der osteuropäischen Ghettos.«

Diesen charedischen Alltag lernt der Leser durch die Augen des neugierigen Knaben kennen, der Asher Reich einst war: von der Schule nach Hause und auf dem Weg dahin allerlei Händler und Metzger, Scharlatane und stille Gottessucher, deren einzigartige (wenn auch nicht immer jugendfreie) Lebensläufe er mit der Zeit erahnt. Denn schließlich sind auch üble Nachrede, Gerüchte und gewisperte Vermutungen Teil jener Welt, in der das Wort zählt, ob nun in kleiner Alltagsmünze oder in Gestalt hymnischer Anrufungen oder der täglich gepaukten Gebote und Verbote.

berlin Ein Mann mit einer Tür ist Reichs zweite Prosaveröffentlichung in deutscher Sprache und quasi das Konzentrat aus dem Vorgängerroman Erinnerungen eines Vergesslichen (erschienen 2000 bei Bleicher), der gekonnt zwischen Kindheitserinnerung und Tel Aviver Erwachsenenleben changierte, inklusive hellsichtiger Berlin-Passagen aus der Zeit des Mauerfalls. »Erst zu jener Zeit«, sagt er, das Haar zerwuselt, die obligatorische Zigarette zwischen Mittel- und Zeigefinger, »habe ich Deutsch gelernt, denn natürlich wollte ich mit den wunderbaren Schriftstellerfreunden, die ich in Berlin kennengelernt hatte, über Poesie und Politik nicht nur radebrechen.« Hier traf er Peter Schneider, Hans Christoph Buch, Hans Joachim Schädlich und Utz Rachowski, die Westberliner Bohème mit Natascha Ungeheuer, Johannes Schenk und dem Lyriker Christoph Meckel, Übersetzer von Reichs 1992 bei Rowohlt erschienenem Gedichtband Arbeiten auf Papier.

Durch deren Erfahrungen, aber auch durch Gespräche mit Hans Magnus Enzensberger – Reich hat ihn ins Hebräische übertragen – lernte er auch so einiges über die komplexen deutschen Gestimmtheiten. »Die Golfkriegsdebatte von 1991 hatte es ja gezeigt«, erinnert sich der 77-Jährige: »Viele der politisch korrekten Deutschen betrauern pflichteifrig, ja vermutlich sogar ganz ehrlich, die im Dritten Reich ermordeten Juden, während sie gleichzeitig mit den lebenden Israelis fremdeln. Und, oj weh, wie gern drohen sie, die bis heute doch nicht mal mit ihren paar Neonazis fertig werden und zahllose ehemalige SED- und Stasileute in den Verwaltungen sitzen haben, dem kleinen Staat da unten am Mittelmeer mit dem moralischen Zeigefinger. Als ob wir Israelis nicht schon selbst hingucken würden, welche Vögel uns gerade regieren.«

narbe Asher Reich spricht weder gedämpft noch zürnend, der raue israelische Akzent hat gleichzeitig etwas Spielerisches, die Worte in die Länge Ziehendes. Und damit erinnert der geistig und habituell so Junggebliebene nun doch wieder an den vorwitzigen Jungen in Mea Schearim, der schon damals keinen Grund gesehen hatte, vor angemaßten Autoritätsmeinungen zu kuschen. Als der häufig beschwipste Melamed seiner Talmud-Tora-Schule einmal nuschelte, der erste Mensch habe Gott erschaffen, war der Schüler aufgesprungen und hatte das – vermeintliche? – Missverständnis korrigiert. Worauf jener Reb Serach dem Jungen mit einem Stock auf den Daumen schlug, bis dieser blutete; Asher Reich hat die Narbe noch heute.

Aber nur äußerlich. Hier schreibt ein souveräner Mensch, ein von dieser Kindheitswelt zutiefst geprägter, aber nicht traumatisierter Chronist. Reich – »Ich bin kein Vorzeigesäkularer« – macht aus seinem Bruch mit der Welt der Charedim kein Dogma. Die Widersprüche seines Herkunftsmilieus versucht er weder zu ideologisieren noch mit kryptischen Metaphern zu umranken, sondern schafft es, sie in transparente Poesie zu überführen: »Die Realität ist nicht die Wirklichkeit, sondern deren äußere Hülle, eine ihrer Hüllen.« Magischer, reflektierter Realismus findet sich in diesen Geschichten deshalb ebenso wie jene Lakonie, die man gemeinhin mit angelsächsischen Storys verbindet.

Anfeindungen Den Bruch und seine Folgen hatte Asher Reich en détail im vorangegangenen Roman beschrieben (man sollte unbedingt beide Bücher lesen, die sich auf faszinierende Weise ergänzen). Dort konnte man auch erfahren, was es bedeutet, eine Mutter zu haben, die angesichts der Zahal-Uniform ihres 18-jährigen Sohnes zetert und noch Jahrzehnte später ihm nach einer Herzattacke am Telefon vorhält: »Wärst du ein gläubiger Jude gewesen und hättest jeden Tag Gebetsriemen angelegt, hättest du auch keinen Infarkt bekommen und würdest jetzt nicht im Krankenhaus liegen.«

Auch beim neuen Buch waren die Reaktionen der Charedim wenig freundlich, erzählt Reich und bricht erneut in sein raues Lachen aus – selbstbewusst und ironisch, doch auch nachsichtig: »Als in Israel der Erzählband erschien, haben einige Aktivisten in Mea Schearim Flugblätter gedruckt, auf denen die Einwohner aufgefordert wurden, mich zu schlagen, sobald ich ins Viertel zurückkäme. Irgendwann nachts rief mich so ein Unentwegter sogar an und drohte mit ›juristischen Schritten‹, obwohl mein Buch ja alles andere als irgendeine eifernde Enthüllungsschrift ist. Also habe ich dem Mann gesagt, ich würde ihn sogar dazu ermutigen, denn er zeige damit vor allem, dass er sich dem Rechtssystem des demokratischen Israel unterstellt, haha ...«

entspannt Anderem hingegen, wie dem Einfluss der populistischen Schas-Partei oder dem eschatologischen Messianismus der radikalen Siedler, bringt Reich weniger Nonchalance entgegen. Und doch scheint für alles, was er sagt und schreibt, die Maxime des Exilpolen Witold Gombrowicz zu gelten, mit dem er übrigens auch das inzwischen entspannte Verhältnis zur Religion teilt: »Zwanglos sein, aber selbst im Zwanglosen nicht maßlos werden.« Man muss sich den ehemaligen Talmudschüler, der gerade Gottfried Benn ins Hebräische übersetzt und eine Anthologie des deutschen Expressionismus herausgegeben hat, als einen wirklich freien Menschen vorstellen. In seiner geliebten Wahlheimatstadt Tel Aviv ebenso wie in Jerusalem oder Berlin.

Asher Reich: »Ein Mann mit einer Tür«. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. S. Fischer, Frankfurt/M. 2012, 301 S., 19, 99 €

Von Marko Martin erscheint Ende November »Kosmos Tel Aviv. Streifzüge durch die israelische Literatur und Lebenswelt« mit einem Vorwort von Ralph Giordano (Wehrhahn Verlag Hannover).

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