Würdigung

Im Zweifel für die Freiheit

Publizist, Zeitzeuge, Vorstandsvorsitzender: Ernst Cramer (1913-2010) Foto: picture-alliance/ dpa/dpaweb

Würdigung

Im Zweifel für die Freiheit

Vor 110 Jahren wurde Ernst Cramer geboren. Sein Einfluss im Axel-Springer-Verlag war immens. Es ist Zeit für eine ausführliche Betrachtung seines Lebens und Denkens

von Nils Lange  08.01.2023 10:09 Uhr Aktualisiert

Nein, ein »Yes-man« war er nicht, so viel ist über Ernst Cramer gesichert bekannt. Mit den Worten »Ich habe genügend ›Yes-men‹ in meinem Verlag. Aber ich suche Leute mit eigener Meinung, die auch zu ihr stehen«, bat einst der Verleger Axel Springer den 44-jährigen Cramer zum Eintritt in die Chefredaktion der »Welt«.

Am Tag zuvor hatte sich Cramer als Vertreter einer großen amerikanischen Nachrichtenagentur ein Wortgefecht mit dem ein Jahr älteren Verleger geliefert, der sich – unter Einfluss führender Nationalkonservativen wie Hans Zehrer stehend – in dieser Zeit noch skeptisch gegenüber den USA gezeigt hatte.

ISRAEL Cramer nahm das Angebot Springers an und übte in den kommenden Jahren entscheidenden Einfluss auf die politische und gesellschaftliche Ausrichtung des Verlages aus. Sein Zutun zur Formulierung der berühmten Essentials des Verlages Axel Springer im Jahr 1967, von denen eines das Bekenntnis zum transatlantischen Bündnis ist, kann kaum hoch genug eingeschätzt werden.

Das Kernanliegen Cramers war die Verteidigung der Bundesrepublik als liberale Demokratie gegen ihre Feinde von links und rechts.

Ernst Cramer stand mit seiner Person auch für einen weiteren der Verlagsgrundsätze, dem Willen der »Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen« und der »Unterstützung der Lebensrechte des israelischen Volkes«, der vor wenigen Jahren auf die Formel »Wir unterstützen das jüdische Volk und das Existenzrecht des Staates Israel«, verkürzt wurde.

Cramer kam im Januar 1913 in Augsburg zur Welt. Seine Familie war jüdisch, assimiliert, äußerst verwurzelt, bewandert in der deutschen Kultur, und – gerade Ernst – interessiert an einer Synthese zwischen jüdischer und deutscher Identität. 1933 gehörte er zum Beispiel zu den Gründern des Bundes Deutsch-Jüdischer Jugend. Spät, 1939, emigrierte Cramer in die USA. Seine Eltern und seinen Bruder musste er in der Hoffnung zurücklassen, dass sie bald nachkämen, doch sie kamen nicht.

POGROME Sie starben in der Schoa, während Ernst Cramer in den USA studierte und sich nach Pearl Harbor freiwillig bei der US Army meldete. Im Frühjahr 1945 war er einer der Soldaten, die hinter der Front mit dem Grauen Nazi-Deutschland konfrontiert wurden. Am 11. April 1945 (noch vor dem Tod Hitlers) führte ihn sein Weg in das befreite Konzentrationslager Buchenwald, in dem er selbst einige Tage nach den Novemberpogromen 1938 inhaftiert gewesen war. Seinem Vorgesetzten, der ihn begleitet hatte, sagte er: »Nach dem Furchtbaren, das wir gesehen haben, finde ich, es ist nahezu meine Pflicht, hierzubleiben, am Wiederaufbau mitzumachen und ein wenig dabei mitzuhelfen, dass in Deutschland wieder Vernunft, Anstand und Gerechtigkeit herrschen.«

»Unser Haus ist staatsloyal, und so sollen auch die Kräfte sein, die in ihm wirken«: So sah auch Kramer den Springer-Verlag.

Das Bild Cramers ist bisher sehr stark durch sein Verhältnis zu Axel Springer bestimmt, auch wenn er noch lange nach dessen Tod den Nachfolgern des Verlegers, bis hin zu Mathias Döpfner, als Berater diente. Nur wenige Tage vor seinem Tod am 19. Januar 2010 kam der 96-Jährige noch mit dem Verlagschef zu einem Jour Fixe zusammen, wie dieser in einem bewegenden Nachruf schrieb.

Nun hat das Unternehmensarchiv der Axel Springer SE kürzlich den umfangreichen Nachlass Ernst Cramers erschlossen und den Weg für detaillierte wissenschaftliche Arbeiten zu Cramer geebnet. Als ein wahrer Schatz zur Analyse Cramers politischen Denkens erweisen sich neben einigen hochinteressanten Briefwechseln die zahlreichen Redemanuskripte.

BOLLWERK Das Kernanliegen Cramers war die Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland als liberale Demokratie gegen ihre Feinde von links und rechts. Gerade der Verlag Axel Springer, so Cramer Anfang der 1970er-Jahre in Berlin, sei in dieser Zeit, in der der Verlag selbst Ziel heftiger Angriffe geworden ist, ein »Bollwerk gegen Radikalisierung«.

Der Gedanke dahinter war, dass in dem liberalen Staat der Nachkriegszeit bereits der stetige Weg zu Verbesserungen angelegt sei, beriefe man sich konsequent auf die ihm inhärenten Wertvorstellungen: »Richtige Gesellschaftspolitik wäre demnach ein evolutionäres Perpetuum mobile, also ebenso eine Absage an revolutionäre oder gar gewaltsame Veränderungen wie an starres Festhalten am Gegenwärtigen, am Überkommenen.«

Er verwies in diesem Zusammenhang auf eine Beschreibung des Axel-Springer-Verlages, die auf den Journalisten Matthias Walden zurückging und die sich auch Springer selbst zu eigen gemacht hatte: »Unser Haus ist staatsloyal, und so sollen auch die Kräfte sein, die in ihm wirken.« Gemeint war eine »auf den Grundlagen der Verfassung beruhende Staatsbejahung«.

Dieses Denken, das man auch als konservativen Liberalismus beschreiben kann, ist letztlich die Grundlage der Vorstellung vom »Ende der Geschichte«, also der Beschreibung Francis Fukuyamas, dass das Ideal der liberalen Demokratie der Endpunkt der Entwicklung gesellschaftlicher Systeme sei. Seinen Glauben an den westlichen Liberalismus stellte der amerikanische Politikwissenschaftler unter einen Vorbehalt, der sich auch im Titel des 1992 erschienen Buches wiederfindet: »The End of History and the Last Man« – den Verweis auf Friedrich Wilhelm Nietzsches »letzten Menschen«.

»ÜBERMENSCH« Nietzsche hatte seinen »letzten Menschen« als Kritik an der Moderne und der liberalen Demokratie in seinem philosophisch-literarischen Werk »Also sprach Zarathustra« eingeführt. Man müsse sich Nietzsches Pessimismus und sein deterministisches Bild des »Übermenschen« nicht zu eigen machen und könne dennoch von seinen Einsichten profitieren, so Fukuyama. Der Nihilismus, Egoismus und Eigennutz des »letzten Menschen« korrumpiere die gesellschaftlichen Ideale der liberalen Demokratie und somit sei das Postulat vom »Ende der Geschichte« nicht in einem linearen, sondern in einem hegelianischen Geschichtsverständnis zu verstehen.

» ›Mir ist alles egal, wenn ich nur so leben kann, wie ich will‹ – mit dieser Philosophie kann man Welten zum Einsturz bringen.«

Ernst Cramer

Bei Ernst Cramer war die Warnung vor dem »letzten Menschen« allgegenwärtig. Auf einer Rede der Franz-Oppenheimer-Gesellschaft in Frankfurt 1972 sagte Cramer: »Dieser materialistische, Verpflichtungen negierende Mensch ist ein Ruin der Gesellschaft, gleichgültig, ob er sich als Bourgeois oder als Vagabund, als Playboy oder als Hippie gibt. ›Mir ist alles egal, wenn ich nur so leben kann, wie ich will‹ – mit dieser Philosophie kann man Welten zum Einsturz bringen.«

Eine Warnung, die sich an die Verächter der liberalen Demokratie richtet sowie an diejenigen, die für sich in Anspruch nehmen, sich außerhalb ihres Rahmens bewegen zu können. Sie erscheint auch in unserer Zeit aktueller denn je. Am 28. Januar wäre Ernst Cramer 110 Jahre alt geworden. Es ist Zeit für eine ausführliche Betrachtung seines Lebens und Denkens.

Der Autor ist Historiker und hat zum politischen Denken von Matthias Walden, einem der Weggefährten Ernst Cramers im Verlag Axel Springer, promoviert. Zurzeit verantwortet er den Bereich Presse und Reden beim Zentralrat der Juden in Deutschland.

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