Dass ein Filmfestival gegenwärtig nicht ohne politischen Aktivismus zu denken ist, ließ sich gleich zum Auftakt der 82. Filmfestspiele von Venedig am roten Teppich beobachten. Dort hielten Aktivisten der Initiative »Venice 4 Palestine« ein »Free Palestine«-Banner hoch, außerdem fand am Samstag außerhalb des Festivalgeländes eine »propalästinensische« Demonstration statt.
Die Gruppe Venice 4 Palestine kritisiert nicht nur das Vorgehen Israels im Gazastreifen und im Westjordanland, sondern forderte auch die Ausladung der israelischen Schauspielerin Gal Gadot, die unter anderem durch ihre Rolle als Wonder Woman international bekannt geworden ist und sich nach den Massakern der Hamas und anderer islamistischer Terrorgruppen vom 7. Oktober 2023 für die Freilassung der Geiseln ausgesprochen und sich mit Israel solidarisiert hat.
In diesem Jahr ist sie in Venedig in Julian Schnabels neuem Film In the Hand of Dante zu sehen, doch wie in einem Interview mit der italienischen Zeitung »La Repubblica« bekannt wurde, wollte Gadot das Filmteam nicht zur Premiere begleiten – ob als Reaktion auf die Proteste und den öffentlichen Brief, den rund 1500 Menschen unterzeichnet haben, ist unklar, weil Gadots Auftritt zuvor nie bestätigt wurde.
Die Boykott-Aufrufe der Aktivisten richten sich auch gegen den britischen Schauspieler Gerard Butler, der ebenfalls in Schnabels Film mitspielt und sich, wie Gadot, öffentlich zu Israel bekannt hatte. Alberto Barbera, künstlerischer Leiter der Filmfestspiele, wies alle Forderungen nach einem Ausschluss israelischer beziehungsweise israelfreundlicher Künstler zurück und erklärte, auf dem Festival werde es »keine Zensur« geben.
Barbera sprach etwas großspurig von der Rückkehr eines »Kinos der Wirklichkeit«
Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen spiegeln sich im Programm des Festivals wider – Barbera sprach etwas großspurig von der Rückkehr eines »Kinos der Wirklichkeit«. Im Wettbewerb beleuchtet Olivier Assayas in seiner Romanverfilmung The Wizard of the Kremlin den Aufstieg Putins zum russischen Präsidenten. Jude Law als Wladimir Putin?
Selbstverständlich wurde Assayas Film heiß erwartet. Der Film erzählt vom Aufstieg Putins aus Sicht eines fiktiven Beraters (Paul Dano), der Putins früherem Chefberater Wladislaw Surkow nachempfunden ist. Doch alle Perücken und schlecht sitzenden Anzüge, alle gegenwärtigen Kommentare à la »Du sollst keine Geschichten mehr erfinden, sondern die Wirklichkeit!« und auch das prominente Ensemble können den Film nicht retten. The Wizard of Kremlin wirkt zeitweise wie ein filmischer Wikipedia-Artikel, der mit Stereotypen jongliert, und ist uninspiriert inszeniert.
Mit Kaouther Ben Hanias The Voice of Hind Rajab läuft ein Spielfilm im Wettbewerb, der die Ereignisse um die fünfjährige Hind Rajab rekonstruieren will. Sie saß im Januar 2024 in Gaza-Stadt während Angriffen der israelischen Armee in einem Auto fest und wurde später tot geborgen. An der Produktion beteiligt waren unter anderem Brad Pitt, Joaquin Phoenix und Jonathan Glazer. Abseits des Wettbewerbs rückt der Schweizer Regisseur Nicolas Wadimoff in seinem Dokumentarfilm Who Is Still Alive die humanitäre Situation im Gazastreifen ins Zentrum, indem er neun aus dem Küstenstreifen Geflüchteten Raum für ihre Geschichten gibt.
In »Orphan« von László Nemes steht die Welt eines jüdischen Autors kurz nach dem Aufstand gegen das kommunistische Regime von 1956 in Budapest auf dem Kopf.
In der Sektion »Venice Classics« wiederum läuft mit Michal Kosakowskis Holofiction ein experimenteller Essayfilm, der die visuelle Darstellung des Holocaust in fiktiven Filmen und Fernsehserien zwischen 1938 und heute thematisiert. Aus über 3000 narrativen Filmen hat der polnisch-deutsche Filmregisseur und Medienkünstler auf der Suche nach (visuellen) Motiven und Erzählmustern Ausschnitte zusammenmontiert.
Passend dazu ist mit dem Ungarn László Nemes ein Regisseur auf dem Lido zu Gast, dessen Film Son of Saul von 2015, eine heftige filmische Introspektive in die Vorgänge im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, die Grenze des Zeigbaren kontrovers erkundet hat. Sein Drama Orphan, in dem die Welt eines jüdischen Autors kurz nach dem Aufstand gegen das kommunistische Regime von 1956 in Budapest kopfsteht, konkurriert um den Goldenen Löwen, den Hauptpreis des Festivals.
Bei der Kritik von »Jay Kelly« kam vor allem das Spiel von Adam Sandler gut an
Mit neuen Filmen von Noah Baumbach und Benny Safdie sind weitere jüdische Stimmen im Wettbewerb vertreten und buhlen um die Löwen, die an diesem Samstag verliehen werden. Baumbach folgt in Jay Kelly einem von George Clooney verkörperten Schauspieler und seiner Entourage bei einer turbulenten Europareise. Bei der Kritik kam vor allem das Spiel des jüdischen Stars Adam Sandler gut an.
Benny Safdie erzählt in The Smashing Machine die Geschichte des legendären Mixed-Martial-Arts- und UFC-Kämpfers Mark Kerr. Der jüdische Regisseur unterläuft alle Erwartungen an Sportlerdramen und entwirft ein zartes, komplexes Porträt.Die Filmmusik von Oscar-Preisträger Daniel Blumberg versetzt den Kinosaal in Ekstase.
Die Filmmusik von Oscar-Preisträger Daniel Blumberg versetzt den Kinosaal in Ekstase.
Mit Mona Fastvolds The Testament of Ann Lee ist ein Film in den Wettbewerb gegrätscht, der formal radikale Wege geht. Fastvold erzählt die Geschichte von Ann Lee, der Gründerin der Shaker-Bewegung, als wunderbar analog fotografiertes, historisches Musicaldrama. Zentral ist in dem düsteren Musical der Gospel, Choräle und Pop verheiratende Soundtrack des jüdischen Komponisten Daniel Blumberg, der für seinen Soundtrack zu Brady Corbets The Brutalist den Oscar erhielt. Seine Komposition versetzt den Kinosaal in Ekstase: ein filmischer Rausch über eine aus Trauer und Schmerz geborene spirituelle Gemeinschaft und ihre messianische Führerin, der in seiner Introspektion auch von gegenwärtigem Fundamentalismus erzählt.
Bis auf ein paar Ausbrecher stellte sich nach dem ersten Festivalwochenende das Gefühl ein, als würde sich der Wettbewerb bei seiner diesjährigen hochprominenten Auswahl mit kinematografischer Sicherheit gegen die sich aus den Angeln hebende Gegenwart stemmen. Über den roten Teppich vor dem Sala Grande jedenfalls sind lange nicht mehr so viele Berühmtheiten stolziert: Julia Roberts, Emma Stone, George Clooney, Adam Sandler, Oscar Isaac, Jacob Elordi, Dwayne »The Rock« Johnson, Emily Blunt und andere. Eskapismus bleibt Teil der Bewegtbild-Kunst – und des Geschäfts.