»Gott ist nicht schüchtern«

Im freien Fall

Ist dem Krieg in Syrien so nahe gekommen, wie es nur geht: Olga Grjasnowa Foto: dpa

»Gott ist nicht schüchtern«

Im freien Fall

Olga Grjasnowa erzählt in ihrem Roman schonungslos vom Bürgerkrieg in Syrien

von Judith Luig  26.06.2017 20:49 Uhr

Dies ist kein guter Roman. Zumindest kein guter im klassischen Sinne. Schönheit sucht man hier vergeblich. Und zu viele der Figuren in Olga Grjasnowas neuem Buch Gott ist nicht schüchtern dienen zu offensichtlich einer Funktion.

Da gibt es Claire, die Freundin des Protagonisten Hammoudi, eine ehrgeizige jüdische Medizinerin aus Paris, die Syrien ablehnt, weil das Land sich mit Israel im Krieg befindet. Wir erfahren kaum etwas von ihr, außer vielleicht, dass sie großen Wert auf die koscheren Sederabende im Haus ihrer Eltern legt und dass sie irgendwann nicht mehr ans Telefon geht, wenn ihr in seiner syrischen Geburtsstadt gestrandeter Freund anruft. Claire repräsentiert Europa. Ein Europa, das sich für den Krieg um Syrien nicht interessiert.

Da gibt es Luna, die Freundin von Amal, der anderen Protagonistin. Luna ist die Tochter eines regimetreuen Generals in Damaskus, sie ist abergläubisch, opportunistisch und verwöhnt. Luna repräsentiert die Unterstützer des Assad-Regimes, die Oberschicht. Das andere Syrien, das einfach so weitermacht, das konsumiert und ausgeht und reist, als gäbe es keine Toten auf den Straßen, keine zerbombten Städte und als wäre nicht halb Syrien auf der Flucht. Auch diese Figur bleibt blass und funktional. Fast ebenso wie die Helden selbst.

hoffnungen Luna und Claire, an Menschen wie sie richtet sich dieses überaus engagierte Buch der Berliner Schriftstellerin Olga Grjasnowa, das gerade im Aufbau Verlag erschienen ist. Grjasnowa erzählt darin die Geschichte von zwei eitlen, ehrgeizigen jungen Menschen voller Hoffnungen und Plänen, deren Leben zerstört wird durch den Krieg, den Baschar al-Assad in Syrien gegen die eigene Bevölkerung führt.

Der eine Protagonist ist Hammoudi. Er strebt eine Karriere als Schönheitschirurg an und hat bereits einen Vertrag mit einer der besten Kliniken in Paris, da soll er wegen einer Formsache zurück nach Syrien, woher er stammt. Sein Pass muss verlängert werden. Zu Beginn des Buches checkt er im Four Seasons in Damaskus ein, am Ende wird er in einem Flüchtlingsheim in der deutschen Provinz unterkommen. Dazwischen liegen Jahre, in denen er im Versteck durch Notoperationen verzweifelt versucht, die Opfer des Krieges zu retten.

Seine Geschichte wird parallel erzählt zu der von Amal, Tochter aus reichem Hause und Schauspielschülerin, die gerade ihre erste große Rolle in einer Fernseh-Soap gespielt hat. Anders als Hammoudi ist Amal politisch motiviert. Sie ist der Willkür der Geheimdienste überdrüssig, wie viele ihrer Generation erträgt sie die alltägliche Korruption und die Machtlosigkeit nicht mehr. »Sie haben es satt, jeden Morgen in der Schule ›Assad, bis in alle Ewigkeit‹ aufzusagen und zu schwören, dass sie alle Amerikaner, Zionisten und Imperialisten bekämpfen werden«, schreibt Grjasnowa. Amal beginnt, gegen Assad zu demonstrieren.

jüdisch Gott ist nicht schüchtern ist der dritte Roman von Olga Grjasnowa. Wie bei ihrem viel beachteten Debüt Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012) erzählt sie wieder eine Geschichte von Menschen, die fliehen müssen. Damals ging es um eine aserbaidschanisch-jüdische Familie, die als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland kamen. So eine Geschichte hat die jüdische Autorin Grjasnowa selbst erlebt. 1984 wurde sie in Baku geboren, mit zwölf Jahren kam sie nach Hessen. Da waren die Geschichten von Flucht bereits in die DNA ihrer Familie eingeschrieben. Ihre jüdische Großmutter floh als Kind aus Weißrussland nach Baku.

Auch die Flucht aus Syrien ist heute Teil ihrer Familiengeschichte. Ihr Mann, Ayham Majid Agha, studierte wie die fiktive Amal Schauspiel in Damaskus, wie sie verbrachte er eine Zeit in Beirut und kam schließlich über Istanbul und Izmir nach Berlin.

Grjasnowa hat für dieses Buch intensiv recherchiert. Sie ist dem Krieg in Syrien so nahe gekommen, wie es nur geht. Sie ist in den Libanon gereist und in die Türkei, sie hat mit vielen Menschen gesprochen, deren Leben so verlaufen ist wie das von Amal und Hammoudi. Menschen, die eben noch Teil der Elite waren und im nächsten Moment von den Folterern Assads, der al-Nusra-Front oder auch nur durch zufällige Bekanntschaften auf den Stationen ihrer Flucht misshandelt, gedemütigt und entmenschlicht wurden.

Flüchtlinge Als sie nach der Flucht in Schlauchbooten über das Meer in Berlin ankommt, da bemerkt Amal an sich selbst eine Veränderung. Sie beobachtet die anderen Frauen auf der Straße. »Plötzlich wird ihr bewusst, dass sie nicht mehr dazugehört. Niemand beachtet sie.« Und: »Die Welt hat eine neue Rasse erfunden, die der Flüchtlinge, Refugees, Muslime oder Newcomer. Die Herablassung ist in jedem Atemzug spürbar.«

Grjasnowa hat eine eigenwillige Art zu erzählen. Ihr Stil ist abgehackt, rastlos. Sie entwickelt ihre Figuren nur hastig. Die Geschichte ist eher erklärt als erzählt. Gott ist nicht schüchtern ist ein schonungsloser, kunstloser Bericht des Grauens. Einmal gibt uns die Autorin den kurzen Ausblick auf einen literarischen Moment. Die heruntergekommenen Helden, die sich in Damaskus nur ein einziges Mal begegneten, treffen sich in Berlin wieder. Jetzt hätte Grjasnowa das Bedürfnis des Lesers nach einer glücklichen Wendung befriedigen können. Aber sie entscheidet sich dagegen.

Wie gesagt: Dies ist kein schöner Roman im klassischen Sinne. Kein Buch, das man im Sommer am Strand lesen möchte. Die Welt, die Grjasnowa ihren Lesern bietet, ist gewalttätig und blutig. Es ist eine Welt, die man nie wieder vergessen wird. Es ist deswegen nur konsequent, dass die Autorin sich allen belletristischen Mitteln versperrt. Ihr Bericht ist brutal, so brutal wie die Welt, über die sie berichtet. Es wäre falsch, sich das schönreden zu wollen.

Olga Grjasnowa: »Gott ist nicht schüchtern«. Aufbau, Berlin 2017, 309 S., 22 €

Medien

Leon de Winter wird Kolumnist bei der »Welt«

Bekannt wurde er vor mehr als 30 Jahren mit Romanen wie »Hoffmanns Hunger«. Jetzt will der niederländische Autor Leon de Winter in Deutschland vermehrt als Kolumnist von sich hören lassen

von Christoph Driessen  29.04.2025

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  29.04.2025

Fernsehen

»Mord auf dem Inka-Pfad«: War der israelische Ehemann der Täter?

Es ist einer der ungewöhnlichsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte. Die ARD packt das Geschehen in einen sehenswerten True-Crime-Vierteiler

von Ute Wessels  29.04.2025

Berlin

Antisemitismusbeauftragter für alle Hochschulen soll kommen

Details würden derzeit noch im Senat besprochen, sagte Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra

 29.04.2025

Jerusalem

Seltenes antikes Steinkapitell wird in Israel ausgestellt

Ein Fund aus dem Jahr 2020 gibt israelischen Archäologen Rätsel auf. Die Besonderheit des Steinkapitells aus römischer Zeit: Es ist mit einem mehrarmigen Leuchter - im Judentum Menorah genannt - verziert

 29.04.2025

Berlin

Jüdisches Museum erforscht Audio-Archiv von »Shoah«-Regisseur

Claude Lanzmann hat mit seiner epochalen Dokumentation »Shoah« Geschichte geschrieben. Das Jüdische Museum Berlin nimmt ein Doppeljubiläum zum Anlass, um das umfangreiche Recherchematerial des Regisseurs zu erschließen

von Alexander Riedel  29.04.2025

Köln

»Charlie Hebdo«-Überlebender stellt Comic zu NS-Raubkunst vor

»Zwei Halbakte« heißt ein 1919 entstandenes Gemälde von Otto Mueller. Die Geschichte des Kunstwerks hat der französische Zeichner Luz als Graphic Novel aufgearbeitet. Mit teils sehr persönlichen Zugängen

von Joachim Heinz  28.04.2025

Berlin

»Eine Zierde der Stadt«

Es ist einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Deutschland: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum im denkmalgeschützten Gebäude der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte eingeweiht

 28.04.2025

Paris

»Bambi«-Neuverfilmung: Nah an Felix Saltens Original

Ganz ohne Spezialeffekte und Animation: In Michel Fesslers »Bambi«-Neuauflage stehen echte Tiere vor der Kamera. Das Buch wurde einst von den Nazis verboten

von Sabine Glaubitz  28.04.2025