Nachruf

»Ihre Literatur sind ein ästhetisches und ethisches Ganzes«

Die israelische Schriftstellerin Ida Fink sel. A. ist am 27. September 2011, kurz vor Rosch Haschana, in Tel Aviv verstorben. Die in Polen geborene Autorin des in Deutschland erschienenen Romans »Die Reise« wurde 89 Jahre alt.

Ehe ich Ida Fink kennenlernte, hatte ich ihr zuletzt erschienenes Buch gelesen, den Erzählungsband Notizen zu Lebensläufen. Ich selbst schrieb gerade die Geschichte meiner Familie, und da mein Großvater ein konvertierter polnischer Jude war und im Vernichtungslager Kulmhof ermordet wurde, griff ich zu Ida Finks Geschichten vor allem, weil ich etwas über den Gegenstand meiner eigenen Arbeit erfahren wollte und weniger, weil ich ein literarisches Erlebnis erwartete.

Aber schon nachdem ich zwei oder drei Seiten gelesen hatte, wusste ich, dass mir eine Lektüre bevorstand, die mehr enthielt als die Erinnerung an deutsche Verbrechen und jüdisches Elend, obwohl alle Erzählungen Ida Finks authentisch sind. »Das will ich so«, sagt sie.

Man muss nicht erlebt haben, was Ida Fink erlebt hat, um zu verstehen, dass sie die Toten nicht zum Material ihrer Literatur degradieren will, dass sie ihnen stattdessen ein Stück ihrer Biografie zurückgibt, indem sie die Übergänge aus der Normalität in das Unbegreifliche beschreibt, die vielen verschiedenen Lebensentwürfe, die alle hinter der gleichen Schicksalswand wie im Nebel verschwinden.

Von dort, hinter dem Nebel, blickt Ida Fink zurück auf jene Zeit, in der die Biografien noch nicht zu einem kollektiven Schicksal, sondern zu Einzelnen gehörten. Je alltäglicher die Details sind, die Ida Fink hinter dem aufreißenden Nebel findet und in die skizzenhafte Erinnerung einfügt, umso wahnsinniger erscheint das festgelegte und unausweichliche Ende der Lebensläufe, über die sie berichtet.

Unfassbar Auch Ida Finks Geschichten sind nicht imstande, den Wahnsinn verständlicher zu machen, aber sie legen ihn bloß. Ida Fink erzählt mit einer klaren hellen Stimme. Als wolle sie sich vergewissern, dass diese Menschen alle wirklich einmal gelebt haben, ruft sie ihre Namen auf, erinnert sich an ihre Gestalt, Träume und Eigenarten, skizziert ihre Wege bis dahin, wo das Verhängnis über sie kommt, und ohne die Stimme zu senken oder zu heben, erzählt sie über diese Grenze hinweg, durch den Nebel hindurch.

Sie überträgt den Ton der Normalität auf das Unfassbare und lässt es uns gerade so als Wirklichkeit begreifen.
Ich wusste über Ida Fink damals nur, was im Klappentext über sie stand: 1921 in Zbaraz, Polen, geboren, während der deutschen Besetzung im Ghetto, später Flucht mit falschen Papieren, seit 1957 in Israel.

Während der Leipziger Buchmesse 1998 lernte ich sie kennen. Im Parkhotel stand sie in einem dunkelblauen Mantel, die Reisetasche neben sich, zwischen der Fensterfront und der Rezeption; blond, mit einer großen Brille, durch die sie mich erwartungsvoll, geradezu einladend ansah. So guckt sie meistens, was ich damals natürlich noch nicht wusste.

Ich weiß nicht mehr, was ich über sie erfahren habe und was später oder aus ihren Büchern. Ida Finks Biografie und ihr literarisches Werk, vor allem der Roman »Die Reise«, sind leicht entzifferbar miteinander verbunden. Sie war achtzehn Jahre alt, als die Deutschen in Polen einmarschierten und einundzwanzig, als die planmäßige Vernichtung der Juden begann. Ida und ihre jüngere Schwester meldeten sich mit falschen Papieren als polnische Mädchen freiwillig zur Arbeit in Deutschland. Immer wieder als Jüdinnen enttarnt, immer wieder auf der Flucht, durchquerten sie Deutschland unter wechselnden Namen und Identitäten und überlebten.

beschreiben Hätte Ida Fink nur über das eigene Schicksal geschrieben, wäre ihr Buch eine Facette in der Rekonstruktion jener Schrecknisse, vor denen wir hinter dem Distanz schaffenden Wort Holocaust in Deckung gegangen sind. Aber sie erzählt mehr, sie beschreibt einen menschlichen Kosmos, wie er nur unter extremen Bedingungen zu erfahren ist.

Aus einer Zeit des Mordens und Sterbens erzählt Ida Fink vom Leben. Der Tod selbst wird in ihren Geschichten fast immer nur genannt, nicht beschrieben. Er ist nicht zu erklären, er bleibt ohne Sinn. Sinn hatten nur die Leben, die er vernichtet hat. Ida Finks entschiedenes, dem Tod sich widersetzendes Interesse am Leben ist es, was Poesie ermöglicht, wo man nur Entsetzen und Trauer zu erwarten wagt.

Aus keiner Zeile ihres Werkes spricht der Hass. Sie hat mit dem Schreiben lange gewartet. Dabei hatte sie früh, gleich nach dem Krieg, schon während der Wochen im UNO-Flüchtlingslager in Deutschland, zum ersten Mal versucht aufzuschreiben, was sie erlebt und gesehen hatte. Stundenlang hätte sie in einem leeren Zimmer vor leerem weißen Papier gesessen.

Nach dem Krieg wollte Ida Fink ihr Musikstudium fortsetzen. Es begann die Zeit, in der sie schrieb, ohne zu schreiben, sagte sie. Damals hätten sie nur darüber sprechen können, wer überlebt hat, wer umgekommen ist, wie er umgekommen ist, wer sich auf wundersame Weise doch retten konnte. Sie hätte eine große Scheu empfunden, das mit einem Wort zu berühren, und unbewusst wohl auf eine klärende Distanz gewartet. Bronek, ihr Mann, der fünf Konzentrationslager überlebt und seine erste Frau und seinen Sohn verloren hat, hätte sie ermutigt. »Und eines Tages, plötzlich, habe ich geschrieben.«

Erzählungen Einige Erzählungen wurden von literarischen Zeitschriften in Israel veröffentlicht, aber es fand sich kein Verlag, der sie drucken wollte. Über den Holocaust könne man nicht schreiben wie sie, sondern nur mit voller Stimme, hätte ihr damals jemand gesagt. 1974 erschien das erste Bändchen mit Erzählungen in hebräischer Übersetzung, die polnische Originalausgabe folgte erst 1987 in einem Londoner Exilverlag. Inzwischen sind ihre Bücher in viele Sprachen übersetzt, prämiert und verfilmt.

Im kleinen Park unten war es still geworden. Durch die Dunkelheit schien Idas helles Gesicht. Erst Monate später werde ich sie am Telefon fragen, was mich schon an diesem Abend bewegt hat: wie es möglich ist, dass ihr Erleben und Wissen keinen Hass in ihr hinterlassen hat. »Ich habe darüber schon einmal nachgedacht«, sagte Ida, »weil ein Engländer mich das Gleiche gefragt hat. Ich weiß es nicht genau, aber bestimmt hängt es mit der Erziehung zusammen.«

Für mich zeuge es von großer Seelenstärke und Weisheit, sagte ich. Und Ida sagte: »Ja, glaubst du?«

Nachdem ich zum ersten Mal ein Buch von Ida Fink gelesen hatte, habe ich versucht, mir die Frau vorzustellen, die das so schreiben konnte. Nachdem ich sie kennengelernt hatte, kam es mir vor, als hätte ich nur länger und genauer lesen müssen und die Person wäre mir ganz von selbst entstanden, denn Ida Fink und ihre Literatur sind ein ästhetisches und ethisches Ganzes. Das mag für die Bewertung ihres Werks ohne Belang sein, obwohl ich glaube, dass es die Voraussetzung seines Entstehens war.

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