Medizingeschichte

Idealisierung und Abwertung

Foto: Matthes & Seitz

Medizingeschichte

Idealisierung und Abwertung

Ulrike Moser schreibt über den Umgang mit Tuberkulose – von der Romantik bis zu Menschenversuchen in Auschwitz

von Harald Loch  24.07.2018 11:54 Uhr

Vom Zauberberg ins KZ. Was für ein Abstieg! Die Geschichte der Schwindsucht ist eine Geschichte der Abwertung.» Mit diesen drastischen Worten fasst die Berliner Historikerin Ulrike Moser ihre «andere deutsche Gesellschaftsgeschichte» zusammen, die unter dem Titel Schwindsucht einen ungewohnten Blick auf die letzten 200 Jahre wirft. Heute heißt die Krankheit Tuberkulose und hat ihren einstigen Schrecken verloren.

Medizingeschichtlich gibt es zwei Zäsuren: Die Entdeckung des Erregers Mycobacterium tuberculosis im Jahre 1882 durch Robert Koch, der dafür 1905 den Nobelpreis für Medizin erhielt, und die Entdeckung des Antibiotikums Streptomycin durch drei amerikanische Forscher der Rutgers University im Jahr 1943, von denen Selman Waksman 1952 der Nobelpreis für Medizin zugesprochen wurde.

Aberglauben Der Autorin geht es um die gesellschaftliche Wahrnehmung dieser Krankheit, die bis zu ihrer Heilbarkeit, also bis nach dem Zweiten Weltkrieg, eine der Haupttodesursachen in Deutschland und der Welt war. Bis zur bahnbrechenden Entdeckung von Robert Koch geisterten die abenteuerlichsten Theorien über Ursachen und Auslöser der Krankheit auch durch die sogenannte wissenschaftliche Welt.

Religiöse, moralische, dem Aberglauben zuzuschreibende Erklärungen und Ergebenheit beherrschten die Einstellung der Menschen zur Schwindsucht. «Mit der Romantik begann eine Umdeutung und Aufwertung von Krankheit, sie fand als existenzielle Erfahrung ihren Platz im Leben. Die Tuberkulose galt als schicksalhafte Krankheit der Genies, der Künstler, der Liebenden und später der Bohème.» Dieser Idealisierung widmet die Autorin eines ihrer Hauptkapitel.

Zu den Mitteln gegen die Schwindsucht gehörte seit Mitte des 19. Jahrhunderts die «gute Luft», das Sanatorium als Lungenheilanstalt war geboren. Die ersten entstanden in Schlesien und bei Frankfurt am Main, bald auch in der Schweiz. Thomas Mann hat mit seinem 1924 erschienenen Zauberberg gleichsam einen Abgesang auf das «Sanatorium als Lebensform» der Reichen und Adligen geschrieben.

Proletarier Schon längst war da die Schwindsucht als «Krankheit der Proletarier» in den Blick von Künstlern genommen worden. Die durch die Entdeckung von Robert Koch feststehende Tatsache, dass die Tuberkulose eine ansteckende Krankheit ist, führte zu geradezu zynischen Schuldzuweisungen an die Ärmsten der Gesellschaft, die in bedrängtesten Wohnverhältnissen bei selten ausreichender Ernährung an Tuberkulose erkrankten und natürlich die Ansteckungsgefahr für alle erhöhten.

Gegen diese rücksichtslose Diffamierung der ausgebeuteten Armut wandten sich Künstler wie Arthur Schnitzler, Edvard Munch, Oskar Kokoschka oder Heinrich Zille, die damit ihren eigenen Ruf aufs Spiel setzten.

Verbrechen Im Schlusskapitel stellt die Autorin in kaum erträglicher Genauigkeit die Behandlung der an Tuberkulose Erkrankten während der Nazizeit dar. Obwohl längst bekannt war, dass es sich um Ansteckung handelte, wurden die Kranken nach «Erbgesundheitsregeln» abgesondert und ermordet. Besonders verbrecherisch waren die Menschenversuche an gesunden jüdischen Kindern aus Auschwitz, die ab November 1944 im KZ Neuengamme mit Tuberkelbazillen infiziert wurden, um an ihnen brutal zu experimentieren. Ende April 1945 wurde die von dem Arzt Kurt Heißmeyer geleitete Abteilung nach Hamburg verlegt und die Kinder in einem verlassenen Schulgebäude am Bullenhuser Damm ermordet.

Die Autorin rekonstruiert die erschütternden Ereignisse unter Bezugnahme auf die Akten des britischen Militärgerichts im sogenannten Curiohaus-Prozess, als dessen Ergebnis die beteiligten SS-Männer zum Tode verurteilt und gehängt wurden. Heißmeyer selbst entkam, tauchte in die DDR ab und wurde dort 1966 zu lebenslanger Haft verurteilt.

Ulrike Moser: «Schwindsucht. Eine andere deutsche Gesellschaftsgeschichte». Matthes & Seitz, Berlin 2018, 264 S., 26 €

Glosse

Der Rest der Welt

Von Kaffee-Helden, Underdogs und Magenproblemen

von Margalit Edelstein  08.12.2025

Eurovision Song Contest

»Ihr wollt nicht mehr, dass wir mit Euch singen?«

Dana International, die Siegerin von 1998, über den angekündigten Boykott mehrerer Länder wegen der Teilnahme Israels

 08.12.2025

Feiertage

Weihnachten mit von Juden geschriebenen Liedern

Auch Juden tragen zu christlichen Feiertagstraditionen bei: Sie schreiben und singen Weihnachtslieder

von Imanuel Marcus  08.12.2025

Vortrag

Über die antizionistische Dominanz in der Nahostforschung

Der amerikanische Historiker Jeffrey Herf hat im Rahmen der Herbstakademie des Tikvah-Instituts über die Situation der Universitäten nach dem 7. Oktober 2023 referiert. Eine Dokumentation seines Vortrags

 07.12.2025

Zwischenruf

Die außerirdische Logik der Eurovision

Was würden wohl Aliens über die absurden Vorgänge rund um die Teilnahme des jüdischen Staates an dem Musikwettbewerb denken?

von Imanuel Marcus  07.12.2025

Los Angeles

Schaffer »visionärer Architektur«: Trauer um Frank Gehry

Der jüdische Architekt war einer der berühmtesten weltweit und schuf ikonische Gebäude unter anderem in Los Angeles, Düsseldorf und Weil am Rhein. Nach dem Tod von Frank Gehry nehmen Bewunderer Abschied

 07.12.2025

Aufgegabelt

Plätzchen mit Halva

Rezepte und Leckeres

 05.12.2025

Kulturkolumne

Bestseller sind Zeitverschwendung

Meine Lektüre-Empfehlung: Lesen Sie lieber Thomas Mann als Florian Illies!

von Ayala Goldmann  05.12.2025

TV-Tipp

»Eigentlich besitzen sie eine Katzenfarm« - Arte-Doku blickt zurück auf das Filmschaffen von Joel und Ethan Coen

Die Coen-Brüder haben das US-Kino geprägt und mit vielen Stars zusammengearbeitet. Eine Dokumentation versucht nun, das Geheimnis ihres Erfolges zu entschlüsseln - und stößt vor allem auf interessante Frauen

von Manfred Riepe  05.12.2025