Literatur

»Ich wollte mal Ingenieur werden«

Staatsfeind wider Willen: György Konrád Foto: ddp

Herr Konrád, wenn man Ihre Biografie ansieht, gibt es eigentlich nur eines, was Sie wirklich gewollt und auch wunderbar zustande gebracht haben: ein ungarischer Schriftsteller zu sein. Als solcher wurden Sie zum Staatsfeind, dann zum gefeierten Helden, und jetzt scheint es wieder auf den Staatsfeind hinauszulaufen – ohne dass Sie sich in irgendeiner Richtung geändert oder etwas anderes gemacht hätten.
Ich bleibe auf meinem Weg. Es gibt verschiedene Windungen, aber die sind nicht mein Problem.

Auch wenn, wie gerade dieser Tage, ein Artikel von einem Hofjournalisten der regierenden FIDESZ erscheint, der »Staatsfeinde« mit Hyänen vergleicht?
Daran bin ich gewöhnt. Ich habe schon im früheren, im kommunistischen Regime viele Leitartikel abbekommen. Das scheinen die jeweils Regierenden und ihre Anhänger irgendwie zu genießen. Die und ich haben nicht viel miteinander zu schaffen.

Lesen Sie solche Artikel?
Manchmal, wenn sie mir vor Augen kommen. Aber im Allgemeinen lese ich keine Zeitungen, in denen eine so schlechte Stimmung herrscht. Übrigens haben auch schon Freunde kritische Texte über mich geschrieben. Einer, István Eörsi, sagte mir mal: »Gyuri, es lohnt sich nicht, etwas gegen dich zu schreiben, ich habe schon sechs Artikel gegen dich verfasst und du bist noch immer nicht verärgert.« Er blieb mein Freund bis zu seinem Tod.

Seitens der magyarischen Nation hat man ja einiges unternommen, Sie von Ihrer Sympathie für Ungarn abzubringen.
Ich gehöre vielen Kreisen an. Der erste Kreis ist meine Familie, dann sind da meine Freunde, dann die Stadt Budapest, dann verschiedene Orte, wo ich mich zuhause fühle. Darüber, was eine Nation ist, habe ich einiges gelesen und mir selber Gedanken gemacht. Aber warum soll ich diese mäßig intelligenten Leute als authentische Vertreter der Nation begreifen? Sie sind Beamte. Und Beamte tun ihre Pflicht.

Sie haben einmal die selbst gestellte Frage, ob es in Ungarn je eine liberale Demokratie geben wird, vorsichtig optimistisch beantwortet: »Ich denke, ja.«
(lacht): Das denke ich noch immer. Aber vielleicht später. Früher oder später. Der Wunsch danach besteht. Ich kenne sehr viele Leute, die das wollen. Kann sein, dass diese »Demokratur«, wie ich dieses komische Regime, diese Mischung aus Demokratie und Diktatur, bezeichne, im nächsten Jahr durch Wahlen stürzt, kann sein, dass nicht, weil sie sich mit vielen verschiedenen Gesetzen ganz geschickt eingeigelt haben. Jedenfalls habe ich nicht mehr das Gefühl, in einem wirklichen Rechtsstaat zu leben, aber eben auch nicht in einer wirklichen Diktatur. Denn im kommunistischen Regime wurden zwei Grundrechte eingeschränkt oder aufgehoben: die Publikationsfreiheit und die Reisefreiheit, was dazu führte, dass ich meine Schriften nur im Untergrund oder im Ausland veröffentlichen konnte. Diese Freiheiten sind noch nicht begrenzt, ich habe einen Verlag, es gibt Zeitschriften und Zeitungen, in denen ich meine Texte jederzeit publizieren kann. Mein neues Buch ist gerade erschienen, es heißt Gästebuch. Es enthält unter anderem einen längeren Essay, dessen deutsche Fassung im März separat bei Suhrkamp herausgekommen ist.

Worum geht es da?
Es handelt sich um einen Essay von etwa 100 Seiten über, wie der deutsche Titel lautet, Europa und die Nationalstaaten. Dem können Sie entnehmen, dass ich Föderalist bin, mir eine europäische Union wünsche und die allgemein als Krise der EU betrachteten Probleme nicht als unüberwindbar empfinde. Ich begrüße auch den neuen Vorschlag von Präsident Obama für eine europäisch-amerikanische Freihandelszone, die zu einer transatlantischen politischen, wirtschaftlichen und vielleicht auch kulturellen Union führen könnte. Wenn die europäische Union stärker ist, dann wird sicher auch die Situation der Juden ruhiger sein, denn die Lage der Juden in einem Nationalstaat ist immer etwas problematisch, während sie in einer so breit gefächerten Union am richtigen Platz sind.

Die Lage der Juden in einem Nationalstaat ist immer problematisch, sagen Sie. Wie sieht es in Ungarn aus?
Es gibt hier eine jüdische Gemeinschaft von rund 100.000 Menschen. Um diese 100.000 Menschen herum gibt es dann die Halb- oder Vierteljuden und all die, die einen Onkel oder Großonkel oder irgendwelche mysteriösen Flecken in ihrer Genealogie haben. Eine Großmutter vielleicht, die 1944 am Donauufer erschossen und in den Fluss geworfen wurde. Warum wurde sie erschossen, könnte ein Enkel oder Urenkel fragen. Und dann stellt sich heraus, dass die Vorfahrin Jüdin war. Die gesellschaftlichen Schichten sind, gerade in Budapest, miteinander vermischt. Man kannte und kennt sich, hat Freunde, Liebesbeziehungen, die jüdische Gesellschaft ist nicht von Ghettomauern umschlossen. Und es gibt auch Orte, Lokale, Cafés, wo sich diese Menschen zeigen. Ich denke, dass eine gewisse Urbanität auch ohne Juden bestehen könnte, aber wenn sie da sind, und in Budapest sind sie da, wird die gesamte Gesellschaft irgendwie munterer.

Hat sich die Situation der Juden in Ungarn in den vergangenen Jahren verschlechtert?
Nicht nur in Ungarn. Wenn ich mich in Westeuropa bewege, werde ich öfter mit »Israelkritik« konfrontiert, diesem besonderen Antizionismus, den man auch als neuen Antisemitismus interpretieren kann. Im 21. Jahrhundert ergibt sich die komische Situation, dass der Antizionismus ebenso zum Steckenpferd westlicher Linksliberaler wurde wie, in meinem Land, zu dem der Rechtsextremen. Was zu einer ironischen Übereinstimmung dieser beiden Anschauungen führt. Aber hier in Ungarn ist es unangenehmerweise so, dass das Land gerade seine sogenannte »Identität« sucht – ein Wort, das ich gar nicht mag, weil es allzu abstrakt ist und nichts bedeutet, ein falscher und fauler Ersatz für andere, konkretere Begriffe, leer, aber schwer zu definieren. Ein kleineres Land, wo es zehn Millionen Menschen gibt, die, wenn man so will, ethnisch bestimmend sind, eben die »Ungarn«. Aber was sind dann die Juden? Eine Ethnie? Ein Volk? Eine Nation? Oder etwas anderes? Eine Religion vielleicht? Aber wie viele Juden sind wirklich gläubig? Ich denke, dass die Juden ein Weltvolk sind, das in verschiedenen Nationalstaaten sein Zuhause gesucht und, wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts beweist, nicht immer gefunden hat.

Wie Sie selbst erfahren haben.
Nach dem Krieg war ich der einzige jüdische Junge in meiner Kleinstadt, der am Leben geblieben war. Später kamen noch zwei Zwillinge zurück, die Objekte für Dr. Mengeles Experimente waren. Und dann ging ich in einer anderen Stadt, in Debrecen, auf ein sehr gutes calvinistisches Gymnasium. Aber Religion konnte ich nur von einem alten Mann, von Herrn Grünhut, lernen, mit ihm habe ich mich sehr eingehend ausgetauscht. Das war auch eine wichtige Quelle.

Sie feiern diese Woche Ihren 80. Geburtstag. Sie wollten immer Schriftsteller werden. Sie sind es geworden. Haben Sie Ihr Lebensziel erreicht?
Ach … Seit ich in die Schule gehe, mache ich immer dasselbe. Ich lese was, schreibe was und bekomme dafür irgendwelche Noten. Dabei wollte ich mal Ingenieur werden, mein Vater war Eisenwarenhändler, es war ein großes Geschäft, voll mit Metall, und ich mochte Maschinen, mochte alles, was aus Eisen ist. Ich wollte sogar etwas mit Feuer machen. So was wie Stahlwerksingenieur. Neben einem Teich, in dem Gänse schwammen, habe ich vom Flugzeugbau geträumt. Aber dann, auf einmal, lagen zwei Bücher auf meinem Tisch. Eine Geschichte der europäischen Philosophie und ein Lehrbuch der Physik. Und die Philosophie von Plato bis Nietzsche hat mich mehr interessiert, und dabei ist es geblieben.

Was wünschen Sie sich zum Geburtstag?
Ich hätte einen kleinen Wunsch. Immer, wenn ich in Berlin bin, kaufe und lese ich die »Jüdische Allgemeine«. Denken Sie, man könnte mir diese Zeitung regelmäßig nach Budapest schicken?

Das Gespräch führte Stephen Tree.

György Konrád wurde am 2. April 1933 in Debrecen geboren und überlebte die Schoa als Kind in Budapest. In seinen Romanen »Heimkehr« und »Glück« hat er diese Ereignisse geschildert. Im realsozialistischen Ungarn zählte er zu den führenden intellektuellen Dissidenten. Konrád ist Verfasser von einem Dutzend Romanen und zahlreichen Essaybänden. Zu seinen bekanntesten Werken zählen die Romane »Der Besucher« und »Geisterfest« sowie der Essayband »Die unsichtbare Stimme«. Von 1990 bis 1993 war er Präsident des internationalen PEN, 1997 bis 2003 als erster Nichtdeutscher Präsident der Akademie der Künste in Berlin. György Konrád wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der Verdienstorden der Republik Ungarn, die französische Ehrenlegion und das Große Bundesverdienstkreuz. Er ist Ehrenbürger seines Geburtsorts Berettyóújfalu und von Budapest.

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