Interview

»Ich wollte es verstehen«

Der Filmproduzent Martin Moszkowicz über seine Familiengeschichte, das Überleben seines Vaters und einen ganz besonderen Zufall

von Louis Lewitan  07.07.2020 11:38 Uhr

Nachfolger von Bernd Eichinger: »Constantin«-Chef Martin Moszkowicz (62) Foto: Mathias Bothor

Der Filmproduzent Martin Moszkowicz über seine Familiengeschichte, das Überleben seines Vaters und einen ganz besonderen Zufall

von Louis Lewitan  07.07.2020 11:38 Uhr

Herr Moszkowicz, was ist an Ihnen jüdisch?
Ich bin kein religiöser Mensch, aber von allen Religionen fühle ich mich mit dem Judentum am meisten verbunden. Ich sehe das Judentum als Schicksalsgemeinschaft, jenseits aller religiösen Aspekte, und ich bin aufgrund meiner Geschichte Teil von ihr. Dieses gemeinsame Schicksal verbindet Juden auf der ganzen Welt. Ich stehe all dem, was mit dem Judentum und auch mit Israel zusammenhängt, sehr nahe. Das ist ganz unabhängig davon, wie man zur Religion selbst steht.

Sie stehen oft im Rampenlicht. Bekommen Sie Hass- oder Drohmails?
Ja, es scheint ein paar Leuten nicht zu passen, dass ich mit meinem Background innerhalb der deutschen Film- und Fernsehindustrie in exponierter Stellung bin. Ich erhalte Hassbriefe und auch strafrechtlich relevante E-Mails. Das hat in den letzten Jahren radikal zugenommen. Meinem Vater ist das zum Glück zum größten Teil seines Lebens erspart geblieben. Früher ging es anonym zu, heute kommen mit klassischer Schneckenpost hasserfüllte Anfeindungen mit Absender, und auf Social-Media-Plattformen, wo ich aktiv bin, geht es oft brutal zu.

Gehen Ihnen diese Anfeindungen unter die Haut?
Früher habe ich die Post immer wieder mal an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet, heute nur noch gelegentlich. Ich nehme das Ganze schon ernst, aber ich lasse mich nicht einschüchtern. Wissen Sie, mir geht jede Art von Hass und Rassismus unter die Haut. Ich glaube, ein Kernübel unserer Geschichte ist der Rassismus in Verbindung mit Fremdenfeindlichkeit. Wenn Hass sich durchsetzt, ist das schlecht für alle Minderheiten. Ich versuche mit unseren Filmen immer wieder mal dagegen zu arbeiten, um von diesen dummen Positionen wegzukommen. Die Ausgrenzung von Juden und der Hass ihnen gegenüber hat sich in letzten Jahren extrem verstärkt und ist Teil dieser Hassbewegung.

Wie bewerten Sie die BDS-Bewegung, die zum kulturellen Boykott israelischer Künstler aufruft?
Ich finde die BDS-Organisation grauenhaft, sie ist wirklich antisemitisch. Ich bin ganz und gar nicht mit allem einverstanden, was in Israel politisch passiert, das ist völlig normal. Kritik an der israelischen Regierungspolitik ist Teil der politischen Auseinandersetzung, aber Israel an sich ist für mich unantastbar. Um das mal so deutlich zu sagen, es gibt in meiner Welt keinerlei Diskussion über das Existenzrecht des israelischen Staates und seiner Unabhängigkeit.

Woher rührt Ihre Beziehung zu Israel?
Ich habe ganz viele Freunde aus und in Israel, Esther Ofarim und ihr Bruder Noam haben viele Jahre bei uns zu Hause gelebt, wir sind früher oft nach Israel gefahren, mein Vater hat da am Habimah-Theater gearbeitet, in den 60er-Jahren, wir haben in Israel gelebt, da war ich sehr klein, und wie gesagt, Israel ist in jeder Beziehung, ich sage mal, kritikfähig, aber man darf es eben nicht grundsätzlich infrage stellen in irgendeiner Art und Weise, und eine Organisation, die den Kern des jüdischen Staates angreift und das, für das Israel heute steht, ist außergewöhnlich schlimm, das geht gar nicht.

Zur Zeit wird heftig über den kamerunischen Philosophen Achille Mbembe debattiert. Er hat in Südafrika zum akademischen Boykott israelischer Wissenschaftler aufgerufen. Wie sehen Sie das?
Ich kann das nicht nachvollziehen, selbst nicht unter dem Aspekt des grauenhaften Postkolonialismus. Ich finde kein vernünftiges Argument für seine Nähe zu BDS. Ganz im Gegenteil, Israel ist die einzige Demokratie in der Region und hat vieles richtig gemacht. Das heißt nicht, dass nicht auch Fehler passieren. Darüber kann und muss man reden, aber Boykott ist das falsche Mittel, denn er führt nie zu konstruktiver Kritik.

Wechseln wir von der Tagespolitik in die Vergangenheit, von der Politik zu Ihrer Familie. Ihr Vater wurde mit 17 Jahren nach Auschwitz in das KZ Buna/Monowitz deportiert. Hat er über diese Leidenszeit gesprochen?
Wir Kinder haben viele Fragen gestellt, und er hat schon sehr früh mit uns offen über seine Zeit im Lager gesprochen und auch ein Buch darüber geschrieben. Er kam 1943 nach Auschwitz. Nur weil es so spät war, hat er wahrscheinlich überlebt. Er war zuletzt Teil des Todesmarsches und wurde an der heutigen deutsch-tschechischen Grenze von Russen und Amerikanern befreit. Sein Überleben ist eine erschütternde und faszinierende Geschichte.

Stimmt es, dass er inmitten des Infernos die Kraft fand, für Häftlinge Stücke aufzuführen?
Ja, er hat seine Liebe zum Theater in Auschwitz entdeckt. Inmitten der Verzweiflung gelang es ihm, die Mithäftlinge für kostbare Minuten abzulenken. Nach dem Krieg ging er zur Jungen Bühne Warendorf im Münsterland, wo er zunächst als Schauspieler anfing, dann wurde er Regieassistent unter Gustav Gründgens und später Regisseur, bekannt war er zuletzt neben seinen Theater- und Operninszenierungen für viele Fernseharbeiten, darunter »Pumuckl«. Mein Vater war ein großer Versöhner. Er sollte im Auschwitzprozess in Frankfurt aussagen, hat es dann aber nicht getan, warum genau, weiß ich nicht. Gleichzeitig hat er in Frankfurt Hochhuths »Der Stellvertreter« inszeniert und hat immer gesagt: Das ist mein Statement zu Auschwitz.

Wie sehr haben Sie sich mit dem Überleben Ihres Vaters befasst?
Ich habe die GIs, die ihn befreit haben, ausfindig gemacht. Einer, selbst deutsch-amerikanischer Jude, lebte noch vor etwa 15 Jahren in einem Altenheim in der Nähe von New York. Im Laufe unseres Schriftwechsels schrieb er: »I remember him. What happened to him?« Ich habe dann herausgefunden, dass er ihn mit nach Amerika nehmen wollte. Er hatte ihm gesagt, komm nach Paris, wir nehmen dich von dort nach Minnesota mit. Aber auf dem Weg nach Paris hat der Zug zufällig in Ahlen in Westfalen angehalten, also dort, wo mein Vater herkam. Er stieg aus, und anstatt nach Paris und Amerika zu gehen, ging er zu Tante Treschen. Das war eine Frau, die vielen jüdischen Familien in Ahlen geholfen hat. Mein Vater hat ihr in Yad Vashem einen Baum gepflanzt. So spielt der Zufall im Leben, er blieb also in Ahlen und fing dann mit Theaterspielen an. Heute gedenken Stolpersteine in der Klosterstraße in Ahlen der Familie Moszkowicz.

Wieso haben Sie sich auf die Suche nach den Befreiern begeben?
Mein Vater hat mir oft vom Lager und vom Todesmarsch erzählt, und ich dachte mir immer, was ist aus diesen Überlebenden geworden? Er war in einer Gruppe von 25 Häftlingen, er war sich immer sicher, dass er das KZ überleben würde. Aber er war überzeugt, dass die SS am letzten Tag vor der Befreiung alle erschießen würde. Dank der Befreier ist das nicht passiert. Er hat gesagt: Diesen Leuten verdanke ich mein Leben. Und ich verdanke ihnen meinen Vater. Deshalb wollte ich sie ausfindig machen.

Ihr Vater hatte sechs Geschwister. Sein Bruder David wurde wegen eines unerlaubten Kinobesuchs im Oktober 1942 deportiert und auf der Rampe in Auschwitz erschossen …
Ja, bis auf meinen Vater und dessen Vater wurde die gesamte Familie ermordet. Mein Großvater konnte noch nach Argentinien auswandern und wollte die Familie nachholen; just dann kam die sogenannte Reichskristallnacht und machte eine Ausreise unmöglich. Statt nach Argentinien kamen sie in ein Arbeitslager nach Essen. Bei einem heimlichen Kinobesuch wurde sein Bruder David verhaftet, er, die anderen fünf Geschwister und die Mutter, sind alle in Auschwitz umgekommen.

Ihre Mutter Renate hingegen ist die Tochter von Armin Dadieu, einem SS-Sturmbannführer und Gauhauptmann. Wie kam Ihre Mutter damit klar?
Die Geschichte meiner Familie und das Verhältnis meines Vaters zu seinem Schwiegervater ist gut dokumentiert, nicht zuletzt in der 1996 erschienenen Autobiografie meines Vaters »Der grauende Morgen«. Mein Großvater mütterlicherseits war und blieb leider bis zu seinem Tod ein Nationalsozialist. In Deutschland war er als Wissenschaftler hoch angesehen und leitete ab 1962 das deutsche Institut für Strahlenantriebe. Er war Nazi, aber, so wird berichtet, kein Antisemit. Er hat gesagt, vieles, was in der Zeit passiert ist, war nicht richtig, aber im Prinzip hat er das ideologisch gutgeheißen, auch nach dem Krieg. Er war Gauhauptmann der Steiermark, also der Gegend, wo meine Mutter geboren und aufgewachsen ist. Meine Mutter hat sich schon sehr früh als Teenager massiv mit ihm gestritten. In meinen Augen ist diese Vater-Tochter-Beziehung an der Auseinandersetzung zerbrochen.

Was hat dieser Teil der Familiengeschichte mit Ihnen gemacht?
Ich habe mich sehr früh, schon als Teenager, mit der Familiengeschichte und dem Antisemitismus befasst und habe dann auch Geschichte und politische Wissenschaften studiert. Ich habe versucht, zu verstehen, wie ein so intelligenter Mann wie mein Großvater sich so verblenden lassen konnte. Ich habe mein ganzes Leben lang daran gearbeitet, das zu verstehen. Vergeblich.

Wie entging Ihr Großvater seiner Verhaftung?
Er ist zunächst geflohen und kam dann ähnlich wie bei der sogenannten Rattenlinie mit anderen Wissenschaftlern über Genua nach Argentinien. Meine Mutter ist dann etwas später nachgefolgt. Mein Vater ist wiederum nach Südamerika gegangen, weil er seinen Vater gesucht hat, und so haben meine Eltern sich dort kennengelernt. In der Nachkriegszeit lebten in Buenos Aires Juden und Nazis Tür an Tür. In diesem Fall war es so, dass mein Vater mit der Deutschen Bühne zuerst nach Chile ging, später nach Buenos Aires, wo er meine Mutter kennenlernte. Sie haben sich ineinander verliebt und sind dann nach Deutschland zurückgekommen. Sie sind dann beruflich viel gereist, unter anderem nach Israel. Ich und meine Schwester waren immer dabei.

Wie muss man sich das vorstellen, wenn Ihr Vater dem Vater seiner Frau begegnet ist?
Mein Vater hat jede politische oder historische Diskussion mit ihm abgelehnt. Wir hatten wenig Kontakt zu ihm, aber die wenigen Treffen haben immer in furchtbaren Diskussionen und Streitereien zwischen meiner Mutter und ihrem Vater geendet. Ihr Verhältnis war extrem belastet. Der Vater meiner Mutter blieb bis zu seinem Tod ein überzeugter Nationalsozialist. Meine Mutter hat meinem Vater angeboten, den Kontakt zu ihrem Vater komplett einzustellen. Das aber wollte mein Vater nicht. Er sagte, wir tragen dieses Päckchen gemeinsam. Mein Vater war ein Mensch, der sein ganzes Leben versucht hat, zu versöhnen. Wenn man so will, ist ja meine Geschichte, oder besser: diese Geschichte, auch eine Geschichte Deutschlands, weil in meinem Fall zwei Menschen, die an völlig unterschiedlichen Enden des Spektrums aufgewachsen sind, sich gefunden haben und ein sehr, sehr glückliches, langes, langes Leben miteinander geführt haben.

Das Interview mit dem Filmproduzenten und Chef der Constantin Film AG führte der Psychologe und Publizist Louis Lewitan.

Martin Moszkowicz wurde 1958 als Sohn des Regisseurs Imo Moszkowicz in Berlin geboren und wuchs in Ottobrunn auf. Sein Vater hatte als einziger von sieben Geschwistern den Holocaust überlebt und machte nach 1945 Karriere als Schauspieler und Regisseur. Nach dem Abitur 1977 an der Waldorfschule in München studierte Martin Moszkowicz an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2014 ist er Vorstandsvorsitzender der Constantin Film AG und verantwortet neben derUnternehmensführung und -strategie unter anderem auch die Bereiche Produktion Film und Weltvertrieb.

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