TV-Geschichte

Ich war die Zielgruppe

Warum dieses Land die Serie »Holocaust« brauchte. Eine persönliche Rückschau

von Martin Krauss  24.01.2019 13:39 Uhr

Szene aus der mehrteiligen Serie »Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss« Foto: dpa

Warum dieses Land die Serie »Holocaust« brauchte. Eine persönliche Rückschau

von Martin Krauss  24.01.2019 13:39 Uhr

Als diese Zeitung, die »Allgemeine Jüdische Wochenzeitung«, im April 1978, also ein dreiviertel Jahr vor der Ausstrahlung in den Dritten Programmen der ARD, über die amerikanische Serie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss berichtete, hielt sie es noch für nötig, in Klammern eine Erklärung des Begriffs mitzuliefern: »Holocaust (Vernichtung)«.

Schon dieses Detail ist interessant. Es zeigt nämlich, dass noch in den 70er-Jahren kein Begriff für den millionenfachen Judenmord verbreitet war. »Auschwitz« als Symbol der Vernichtung wurde nur in kleinen, historisch interessierten Intellektuellenkreisen verwendet, und der hebräische Begriff »Schoa« war außerhalb jüdischer Gemeinden kaum zu hören.

Der »Spiegel« nannte »Holocaust«
ein »amerikanisches Fremdwort«.

Erst der Serienname Holocaust, also das dem Griechischen entlehnte Wort, das für »vollständig verbrannt« steht, gab dem Grauen einen von der Mehrheitsgesellschaft aufgegriffenen Namen. Da man nicht darüber gesprochen hatte, gab es auch keinen Begriff dafür. Der »Spiegel« nannte »Holocaust« ein »amerikanisches Fremdwort«, das den Deutschen bislang »als exotische Vokabel« vorkommen musste. So sprachen sie es auch aus.

umkleidekabine Ich war 14 Jahre alt, ein sehr aktiver Sportler, und kein Jude. Ich war die Zielgruppe, sozusagen. Jedenfalls hat die im Film erzählte Geschichte der Familie Weiss bei mir viel bewirkt, und ich erinnere mich erstaunlich gut an den Film und seine Wirkung.

In der Umkleidekabine des Schwimmbades, in dem ich täglich trainierte, fand am Tag nach der ersten Ausstrahlung etwas statt, was da sonst nie geschah: Wir sprachen über die Geschichte, über den Film, über das, was wir fast alle am Vortag, als wir vom Training nach Hause gekommen waren, gesehen hatten. Kein Tatort, kein Fußballspiel, kein Fernsehquiz hat so etwas jemals geschafft. Wir erzählten uns, was wir gesehen hatten, wie schlimm wir das geschilderte Geschehen fanden, und versicherten uns, ja, auch, dass es das wirklich gegeben hatte.

Kein Tatort, kein Fußballspiel,
kein Fernsehquiz hat
so etwas jemals geschafft.

Auch in der Schule war Holocaust Thema. Weniger spontan, es fand in dem Rahmen statt, der in einer bundesdeutschen staatlichen Schule der 70er-Jahre dafür reserviert war: dem Religionsunterricht, in meinem Fall dem katholischen. Den Lehrer mochte ich, er war ein Linksintellektueller, wie er im rheinischen Katholizismus von Heinrich Böll verkörpert wurde. Er glaubte, uns warnen zu müssen: Das sei ja fürs amerikanische Privatfernsehen gedreht worden, die würden ja mit solchen Filmen Geld verdienen, und ihn schaudere der Gedanke, dass die dort filmisch erzählte Geschichte plötzlich von einem Werbeblock für Waschmittel unterbrochen werde.

Ressentiments Ich muss zugeben: Mir als 14-Jährigem kamen diese Gedanken nachvollziehbar vor. Erst mittlerweile spüre ich, dass hier, gerade mal 34 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, ein sehr tief sitzendes Ressentiment mitschwang. Gegen Amerika, gegen die Alliierten. Ein Ressentiment, mit dem der Mann nicht alleine stand.

Im November 1978 ging beim Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland der Antrag ein, die EKD solle doch ihren Einfluss nutzen, die geplante Ausstrahlung des Films zu verhindern. Der Antragsteller fragte, »ob es die Deutschen nötig hätten, sich von amerikanischen, nur am kommerziellen Filmerfolg interessierten Regisseuren bei der Bewältigung ihrer Vergangenheit helfen zu lassen«. Der Antragsteller, ein konservativer Professor, dachte ähnlich wie mein linker Religionslehrer.

Den Hintergrund benannte die – von mir damals nicht gelesene – »Allgemeine Jüdische Wochenzeitung« sehr gut. »Aber die Angst kroch einigen Menschen den Rücken herauf«, beschrieb Hermann Lewy 1979 dort die Mehrheitsbefürchtungen. »Was werden unsere Kinder und Enkelkinder uns wohl erst für Fragen stellen, wenn sie den Film in der Bundesrepublik gesehen haben?« Einen Hintergrund, was mir damals auch nicht bewusst war, bildete die Verjährungsdebatte. Die Frist für Mord war 1969 von 20 auf 30 Jahre verlängert worden; 1979 stand die Entscheidung wieder an.

20 Millionen Menschen sahen
letztlich die Serie, auch sehr viele Jugendliche.

Es gab also unendlich viele Gründe für eine Behandlung des Themas, das über Seminare der politischen Bildung oder den Religions- und Geschichtsunterricht hinausreichte. Man könnte auch formulieren: Der Bedarf war da.

20 Millionen Menschen sahen letztlich die Serie, auch sehr viele Jugendliche, obwohl die Folgen jeweils erst am späteren Abend ausgestrahlt wurden. Die Serie bewegte etwas, nicht nur bei mir. »Anstoß zum Nachdenken«, hatte es Hermann Lewy in dieser Zeitung genannt, und zwei Wochen später lautete die Überschrift eines Leitartikels von Heinz Galinski: »Heilsame Unruhe notwendig«.

Was mir nicht bewusst war und womit ich mich erst jetzt, 40 Jahre später, beschäftigt habe, ist die bemerkenswerte Vorgeschichte des Films: Dass die Serie, die der WDR für die ARD eingekauft hatte, nur in den Dritten Programmen – und auch hier nicht in allen! – lief, lag daran, dass die Programmdirektoren befürchteten, einige Anstalten würden sich ausklinken; der Bayerische Rundfunk hatte damit gedroht. Interessant auch die Forderung der Schüler Union Bayern, wenn Holocaust gesendet werde, müsse gleichfalls eine Nachfolgeserie zur Vertreibung Deutscher aus ihrer Heimat produziert werden.

morddrohungen Offen rechtsradikale Hetze inklusive Anschläge gab es auch: Leitungen zu einem Sender des Südwestfunks wurden gesprengt; telefonische und schriftliche Drohungen gingen vor allem beim WDR ein, der die Ausstrahlung federführend betreute, und Heinz Galinski, Vorstand der Berliner jüdischen Gemeinde, erhielt eine Morddrohung, er solle die Serie gefälligst absetzen.

Der Religionslehrer warnte,
der Film sei ja fürs
US-Privatfernsehen gedreht worden.

Und es gab die intellektuell, liberal, durchaus auch links anmutende Abwehr­attitüde. Der »Spiegel« etwa schrieb, der Sender NBC, der Holocaust produziert hatte, habe ja nur irgendeinen historischen Stoff genommen, weil kurz zuvor sein Konkurrent ABC mit Roots einen so großen Erfolg gehabt hatte.

Zuckmayer Außerdem, so der »Spiegel«, werde mit Holocaust der falsche Eindruck erweckt, die deutsche Nachkriegskultur habe sich »an der Auseinandersetzung mit den Nazi-Verbrechen vorbeigemogelt«. Dabei habe es doch etwa von Carl Zuckmayer das Stück Des Teufels General gegeben, »in dem Hitlers Rassenwahn zumindest ein Nebenthema bildete«.

Irgendwie erscheint es mir angemessen, am Ende dieses Artikels erneut Hermann Lewy zu zitieren, der 1979 in dieser Zeitung schrieb: »Wir unterlassen es, auf historische und andere Mängel wie auf einige Stellen hollywoodschen Kitsches im Film hinzuweisen. Wir halten das für Beckmesserei und für Ablenkung von der gesamten Aussage des Films. Holocaust ist ein hervorragendes Werk – Buch sowohl wie Film.«

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