Antonia Yamin

»Ich liebe dieses Land«

Die israelische TV-Korrespondentin über ihr Verhältnis zu Deutschland und ihren Übertritt zum Judentum

von Ayala Goldmann  06.06.2021 12:15 Uhr

»Meine Mutter ist Deutsche, meine Großeltern leben hier. Ich fühle mich hier auch zu Hause«: die israelische Journalistin Antonia Yamin Foto: Boaz Arad

Die israelische TV-Korrespondentin über ihr Verhältnis zu Deutschland und ihren Übertritt zum Judentum

von Ayala Goldmann  06.06.2021 12:15 Uhr

Frau Yamin, Sie sind am 15. Mai bei einer propalästinensischen Demonstration in Berlin-Neukölln mit einem Böller beschossen worden, während Sie für Ihren israelischen Fernsehsender berichteten. Haben Sie sich von diesem Schreck erholt?
Ich habe mich sehr schnell erholt, weil das Tempo meiner Arbeit mich dazu zwingt. Ich musste eine Live-Strecke machen, und am nächsten Tag bin ich frühmorgens zum Eurovision Song Contest in Rotterdam geflogen. Als ich zurückkam, sollte ich nach Italien fliegen, um über das Seilbahnunglück mit fünf israelischen Todesopfern zu berichten. Ich hatte einfach keine Zeit, mich mit dem Schock zu befassen.

Wie haben Sie die Kundgebung in Neukölln erlebt?
An diesem Tag gab es in ganz Europa sehr viele propalästinensische Demonstrationen wegen des »Nakba«-Tags – und dazu kam der Krieg zwischen Israel und der Hamas. Die Stimmung in Neukölln war sehr gewalttätig. Hunderte von jungen Männern marschierten mit Hamas-, Palästina-, Syrien- und Iranflaggen auf den Straßen, riefen »Allahu Akbar« und auf Arabisch, dass sie »mit Blut und Rache Palästina rächen« wollen. Die Demonstranten waren sehr hasserfüllt. Es waren auch Frauen und Kinder dabei, aber hauptsächlich junge Männer. Ich konnte gar nicht glauben, dass sich das Ganze auf deutschen Straßen abspielt. Das hätte genauso gut in Gaza sein können. Ich war schon in der Vergangenheit auf Al-Quds-Demos, aber so krass und gewalttätig habe ich das bisher nicht erlebt. Ich sollte einen Aufsager machen, ich habe Hebräisch gesprochen, mein Mikrofon trägt den hebräischen Schriftzug meines Senders »Kan«. Anschließend wollte ein RTL-Team mich interviewen, sie hatten zum Glück zwei Bodyguards. Ein paar Sekunden, nachdem sie die Kamera angemacht haben, wurde der Böller auf uns geworfen. Und einer der Bodyguards sagte: »Ich habe gehört, wie einer der Demonstranten rief: ›Sie spricht Hebräisch!‹« Am Anfang habe ich mich sehr erschrocken, weil ich nicht wusste, ob das ein Böller war oder ein Schuss.

76 Jahre nach der Schoa gibt es in Ihrem Geburtsland Deutschland Orte, an denen Sie kein Hebräisch sprechen können. Ist Neukölln ein solcher Ort? Sie haben vor drei Jahren eine ähnliche Erfahrung gemacht.
Ja, Neukölln ist ein solcher Ort. Vor drei Jahren haben mich schon einmal ein paar Jugendliche mit einem Böller beworfen, als ich Hebräisch sprach. Aber damals war ich mir nicht so richtig sicher, was der Grund war. Diesmal bin ich mir zu 100 Prozent sicher, und es gibt keinen Zweifel. Ich war jetzt drei Jahre nicht in Neukölln. Wenn ich dort keinen journalistischen Auftrag habe, gehe ich da nicht hin. Und wenn ich einen habe, mache ich es ungern. Aber ich musste als Europa-Korrespondentin von »Kan« über diese Demonstration berichten.

Wie haben Sie den Polizeieinsatz erlebt?
Die Polizei war total überfordert. Es gab nicht genug Beamte. Den Angriff auf mich haben sie gar nicht bemerkt, sondern erst aus den Medien davon erfahren. Die Auflösung der Demonstration ist zunächst gescheitert, weil die Leute einfach nicht nach Hause gehen wollten. Es ging noch drei bis vier Stunden weiter, sie haben Steine auf die Polizisten geworfen, die Polizei reagierte mit Tränengas. Das war einfach Chaos. Und ich frage mich: Man weiß doch, wie solche Demos aussehen. Warum setzen sie nicht genug Polizisten ein?

Hat die Polizei sich nach dem Angriff bei Ihnen gemeldet?
Bis jetzt nicht. Beim letzten Mal haben sie sogar meinen Vermieter angerufen, diesmal nicht. Ich glaube aber, dass die RTL-Journalisten Anzeige erstattet haben. Ich könnte aber auch nicht sagen, wer es war. Ich habe in die Kamera geschaut.

Bei dem Böller-Angriff vor drei Jahren in Neukölln waren Sie noch nicht Mutter. Jetzt haben Sie eine sechs Monate alte Tochter. Macht das für Sie einen Unterschied?
Ja, meine Schwester und meine Mutter waren total wütend auf mich, dass ich überhaupt zu dieser Demo gegangen bin. Und ich habe gesagt: »Aber das ist meine Arbeit!« Als ich nach dem Angriff nach Hause kam, habe ich als Erstes meine Tochter in den Arm genommen, weil ich sie den ganzen Tag nicht gesehen hatte, und es hat mir wehgetan. Meine Tochter ist wie ich in Deutschland geboren, sie ist wie ich halb Deutsche und halb Israelin, und es tut mir weh, dass es wahrscheinlich auch für sie Orte geben wird, wo sie nicht Hebräisch sprechen kann. Und dass sie Angst haben wird, zu sagen, dass sie Jüdin ist und israelische Eltern hat.

Sie gehen also davon aus, dass sich die Situation nicht verbessert?
Antisemitismus kommt von so vielen Seiten. Es gab schon immer die Rechtsextremen in Deutschland, und sie verschwinden auch nicht. Auch die extremen Islamisten gehen nicht weg. Und der Konflikt zwischen Israel und Gaza und den Palästinensern wird ebenfalls nicht verschwinden. Vielleicht haben wird jetzt ein, zwei, im besten Fall drei Jahre, aber dann kommt der nächste Feldzug. Der nächste Krieg steht vor der Tür, und die Juden in der Diaspora werden jedes Mal darunter leiden.

Hat die Berichterstattung über die Eurovision in Rotterdam Sie abgelenkt?
Ja und nein. Als die israelische Sängerin Eden Alene im Halbfinale auf die Bühne kam, gab es eine propalästinensische Demo. Ich habe angefangen, zu drehen und Fragen zu stellen. Aber dann sah jemand meine Akkreditierung, auf der »Israel« stand. Und daraufhin haben sie angefangen, mich anzuschreien und zu beleidigen: »Es gibt nur Palästina! Es gibt kein Israel!« Diese Leute sind nicht friedlich, da braucht man sich keine Illusionen zu machen. Sie leugnen Israels Existenzrecht, und hinter ihnen stehen gewalttätige Kräfte wie die Hamas.

Sie haben im Dezember 2020 Ihre Tochter in Berlin zur Welt gebracht – und in einem Interview gesagt: »Ich glaube an dieses Land.« Ist das immer noch so?
Ja. Ich liebe dieses Land. Meine Mutter ist Deutsche, meine Großeltern leben hier. Ich fühle mich hier auch zu Hause.

Mehr als in Israel?
Diese Frage versuche ich schon 32 Jahre zu beantworten. In Israel war ich die Deutsche, in Deutschland bin ich die Israelin. Ich fühle mich in beiden Ländern zu Hause. Manchmal rege ich mich total über die Deutschen und ihre Bürokratie auf, und wenn ich im Urlaub in Israel bin, denke ich: Warum sind hier alle solche Barbaren? Aber ja, ich glaube immer noch an Deutschland. Mir ist es in meiner Arbeit sehr wichtig, Interviews mit Schoa-Überlebenden zu machen, solange sie noch unter uns sind, um an ihr Schicksal zu erinnern. Aber Antisemitismus ist heute ein weltweites Problem. Wir haben jetzt auch in Los Angeles gesehen, dass in einem koscheren Sushi-Laden gefragt wurde: »Wer ist Jude?« und versucht wurde, Leute zu verprügeln. Es gab fürchterliche Vorfälle in New York und in Großbritannien. Und auch in Israel war es entsetzlich, das war ja schon fast ein Bürgerkrieg: In diesen elf Tagen des Gaza-Kriegs haben in Israel Juden Araber angegriffen, und Araber haben Juden angegriffen. Die ganze Situation ist schrecklich. Und ja, ich stehe immer noch zu meiner Haltung: Deutschland darf es nicht zulassen, dass Leute hier 76 Jahre nach der Schoa Angst haben, Hebräisch zu sprechen, dass man Israelflaggen vor Synagogen verbrennt oder Juden verprügelt, weil sie eine Kippa tragen. Aber auch in Israel ist es heute nicht so leicht, ein Araber zu sein, oder ein jüdischer Israeli, der eine linke Meinung hat.

Was gibt Ihnen Hoffnung und Kraft?
Nach diesen elf Tagen, in denen so viel Schlimmes passiert ist, nach einer so langen Zeit von Corona, bin ich gerade ein bisschen depressiv. Ich bin einfach froh, dass es vorbei ist. Bis zum nächsten Mal.

Sie waren in Israel in der Armee und sind während Ihres Wehrdienstes zum Judentum konvertiert. Darüber haben Sie in Ihrem Sender offen gesprochen. Wollen Sie auch mit uns darüber reden?
Wir können natürlich darüber reden! Mein Vater ist israelischer Jude, ich bin in Deutschland geboren und in Israel aufgewachsen. In meinen Augen war ich immer Jüdin, ich habe mich niemals als etwas anderes gefühlt. Mein Vater hat eine Riesenfamilie, sie sind elf Geschwister, wir haben alle jüdischen Feste in großem Stil gefeiert, an Jom Kippur habe ich seit meinem zehnten Lebensjahr gefastet, noch vor meiner Batmizwa. Aber als ich 15 war, bekam ich meinen israelischen Personalausweis nach Hause geschickt, und bei Nationalität stand darin: »christlich«. Ich habe das Dokument einfach in die Schublade geworfen und nicht mehr angeschaut, weil ich wusste: Das bin ich nicht. Als meine Mutter mit mir schwanger war, wollte sie zum Judentum konvertieren, aber mein Vater hatte nicht den Kopf dafür, und als er es dann tatsächlich wollte, war ich schon 14, und ihre Konversion hätte mich in diesem Alter – nach der Batmizwa – nicht mehr zur Jüdin gemacht. Meine Mutter sagte dann, dass ihre Töchter sich selbst dafür entscheiden müssten. Sie hat immer einen Davidstern an ihrer Kette getragen, in Deutschland und in Israel, und ich wusste immer, dass ich nichts anderes bin als Jüdin.

Der Giur war für Sie also eine Formalität, eine Klärung Ihres Status?
Ja. Und ich wollte mich zugehörig fühlen. Meine Mutter ist blond, hellhäutig, sehr groß. Ich habe nichts davon geerbt. Als Kind habe ich gemerkt, dass die Leute in Israel sie anschauen und sich fragen: Aber was ist sie denn? Als ich dann zur israelischen Armee ging, gab es dort die Möglichkeit zu konvertieren. Dafür habe ich mich entschieden.

Wie war diese Erfahrung?
Man hat Unterricht, geht zur Synagoge, betet dreimal am Tag, und nach neun Monaten kommen am Ende die Prüfung und die Mikwe. Für mich war es komisch, denn sehr viele in diesem Kurs waren Neueinwanderer aus Russland. Ich fühlte mich als Außenseiterin. Ich dachte: »Ich bin ja Jüdin, ich bin ja Israelin. Warum muss ich hier sitzen und über den Schabbat lernen? Ich könnte euch beibringen, wie man den Kiddusch macht.« Es war nicht die beste Erfahrung meines Lebens.

Haben Sie es jemals bereut?
Nein. Wenn ich es nicht getan hätte, hätte sich ja nichts geändert. Ich wäre immer noch Antonia Yamin. Yamin ist kein deutscher Nachname, und ich sehe nicht wie eine Biodeutsche aus. Ich habe einen deutschen Pass, ich habe einen israelischen Pass. Für die Öffentlichkeit war ich immer Jüdin, egal, welche Papiere ich besitze.

Wie wichtig ist es Ihnen, Tradition weiterzugeben?
Wir feiern nur jüdische Feiertage. Wir sind nicht sehr religiös und nicht orthodox, aber meine Tochter ist an Chanukka geboren, und das war schon immer mein Lieblingsfest.

Bei Ihrer Biografie scheint es logisch, dass Sie israelische Korrespondentin in Berlin werden mussten …
Das könnte man denken, aber vieles war auch Zufall.

Wie lange wollen Sie in Berlin bleiben?
Mein Job war auf zwei Jahre angelegt, jetzt bin ich schon vier Jahre hier. Meine Arbeit ist sehr vielfältig. Ich habe das Hausmädchen von Hitler getroffen, ich berichte über adlige Hochzeiten, habe Angela Merkel und Sebastian Kurz interviewt. Ich bin sehr gerne hier, und ich liebe meine Arbeit.

Die Website Ihres Senders kan.org.il war zeitweise von Deutschland aus nicht zu erreichen. Stimmen Medienberichte über Hacker-Angriffe?
Ich weiß nur, dass es zutrifft. Wir wissen bisher nicht, wer dahintersteckt.

Mit der Europa-Korrespondentin des israelischen TV-Senders »Kan« sprach Ayala Goldmann.

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