Gespräch

»In einer Welt ohne Israel kann ich nicht leben«

»Im Judentum sind die Hohen Feiertage ein Moment der Selbstreflexion«: der Berliner Künstler Leon Kahane (Jahrgang 1985) Foto: Gregor Zielke

Herr Kahane, wie schätzen Sie als Künstler das gegenwärtige Diskursklima in der Kunstwelt ein? Worauf liegt der Fokus?
Wenn ich auf die größeren thematischen Ausstellungen – die documenta und die Venedig-Biennale – blicke, dann sehe ich einen starken Schwerpunkt auf Fragen nach Identität und Zugehörigkeit. Es gibt ein gesteigertes Konfliktbewusstsein und eine Hinwendung zu Fragen wie Aufklärung, Kolonialismus und Apartheid. Dazu kommt ein Bewusstsein für historische Schuld und historische Verantwortung.

Wie werden diese Themen verhandelt?
Mein Eindruck ist, dass es ein sehr hohes Maß an Idealismus gibt – und einen sehr geringen, schrumpfenden Anteil an materia­listischer Analyse und Faktizität. So etwas wie institutionskritische Kunst hat eigentlich kaum noch einen Raum. Stattdessen ist ein starkes Bedürfnis zu beobachten, sich in der konflikthaften Welt zu orientieren und einen Platz einzunehmen. Die Konflikte rücken einfach wahnsinnig nah heran – auch an die eigenen Biografien.

Wie passt der in der Kunstwelt immer präsentere Antisemitismus in dieses Bild?
Man sucht sich einen Konflikt, der all diese Fragen scheinbar vereint. Ein Beispiel: Im Februar fand im Hamburger Bahnhof in Berlin Tania Brugueras 100-stündige Lesung von Hannah Arendts »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« statt. Die Performance wurde von einer Gruppe »propalästinensischer« Aktivistinnen gestört, die dort ein Banner hochgehalten und Besucher und Teilnehmer der Performance zusammengeschrien haben. Das war sehr aggressiv und gewaltvoll. Auf dem Banner stand: »Palestine will set us free« (»Palästina wird uns befreien«). Befreien wovon?

Nach der ersten Aufführung ihrer Leseperformance 2015 in Kuba wurde Bruguera vom kubanischen Regime inhaftiert.
Ja. Interessanterweise sagte sie einem US-Podcast zeitgleich zur Berliner Aufführung, dass die Zensur im Westen schlimmer sei als in Maos China, weil in totalitären Systemen die Zensur alle Aspekte des Lebens befalle – während an Orten, wo man sich auf der Basis der eigenen Demokratie überlegen fühlt, die eigene Zensur nicht thematisiert werde. Sie kommt zu dem Schluss, dass man etwas nicht bekämpfen kann, was man nicht benennen kann. Das ist die attraktive Klarheit des Autoritarismus: Man ist für nichts verantwortlich und hat einen eindeutigen Gegner.

Können solche Mechanismen auch nach dem Ende einer Diktatur weiterbestehen?
Ja. Das lässt sich auch in den neuen Bundesländern beobachten. Der Protest hat keine materielle Verhältnismäßigkeit, sondern es geht um den Druck der Eigenverantwortlichkeit, der mit der Freiheit einhergeht. Die Bindung an ein Regime, ob oppositionell oder repräsentativ, macht auch etwas mit der Relevanz der eigenen künstlerischen Arbeit. Das sieht man auch am Beispiel der Künstler der DDR nach 1989.

Was heißt das für die Gegenwartskunst?
Das Verlangen nach Authentizität ist ganz stark. Was ist die höchste Form von Authentizität? Gewalt. Und was ist die höchste Form des Idealismus? Das nihilistische Martyrium. Idealisten müssen scheitern, um ihren Idealismus zu beweisen. Sonst gilt man als kommerziell und als Establishment. Aus Erlösungswunsch und Autoritarismus entwickelt sich eine eigene Ästhetik.

Klingt das nicht vielmehr nach Hamas-Ästhetik?
Es ist vielleicht eine Mischung aus Realismus und Folklore. In der Kunstwelt erleben wir ein größeres Verständnis für die Verhaltensweise der Hamas, weil sie in gewisser Weise als authentisch oder natürlich angesehen wird. Die Hamas gilt als Reaktion auf das Unnatürliche und Unauthentische – auf den Westen und Israel also.

Woher kommt diese Fixierung auf Israel und die Palästinenser?
Es geht außerhalb von Israel und Palästina vor allem um Projektionen, in denen beide Gesellschaften Funktionen einnehmen, wobei sich das Schicksal der Palästinenser eher als positive Antithese zu Israel ins Bewusstsein rückt, während Israel die eigene Konflikthaftigkeit und Widersprüchlichkeit symbolisch vereint. Der reale Konflikt vor Ort spielt dabei vor allem bei tatsächlich Betroffenen eine Rolle. Begriffe wie »Kolonialismus«, »Apartheid« oder »Genozid« sind Resultate einer Konfliktübertragung. Dieses Motiv ist auch im klassischen Antisemitismus von zentraler Bedeutung. Mit der Vernichtung der Juden wollte man sich von den eigenen Konflikten erlösen.

Wie kann die Kunstwelt wieder aus dieser Sackgasse herausfinden?
Die Kulturinstitutionen müssen sich mit dieser idealistischen und destruktiven Dynamik auseinandersetzen. Antisemitismus lässt sich als regressive Kulturtechnik begreifen, die nicht lösungsorientiert ist, sondern bei der die Erlösung das zentrale Motiv ist. Institutionen sollten sich entsprechend darüber klar werden, dass sie für diese Dynamik ein zentraler Austragungsort sind. Die Herausforderung ist nicht neu. Dass Antidemokraten mit der Demokratie die Demokratie abschaffen, ist bekannt. Jetzt sollte man nochmal über die Bedrohung der Kunstfreiheit nachdenken.

Was bedeutet Israel Ihnen persönlich?
Ich kann in einer Welt ohne Israel nicht leben! Israel ist in einer bestimmten Form ein Schutzort für mich: Antisemitismus kenne ich, seit ich ein Kind war, daran wird sich nichts ändern. Wenn Israel nicht mehr ist, dann verschwindet ja nicht das Bedürfnis nach etwas, was der jüdische Staat im Moment als Projektion erfüllt. Und ich weiß, dass ich dann viel stärker in der Rolle wäre, die antisemitische Projektion zu erfüllen.

Gehen dann die Pogrome hier los?
Ja.

Was gibt Ihnen Kraft? Wie begehen Sie die Hohen Feiertage?
Im Judentum sind die Hohen Feiertage ein Moment der Selbstreflexion. Philosophische Grundsatzfragen werden zum Beispiel über Alltagserfahrungen verhandelt. Das ist etwas, was mir sehr wichtig ist. Ich versuche, die Hohen Feiertage immer zu feiern. Vorletztes Jahr haben mein Freund Shlomo und ich eine Sukka am Rosa-Luxemburg-Platz gebaut, wo wir auch eine kleine Ausstellung über die letzte Sukka im Scheunenviertel von 1933 gezeigt haben. Ich versuche auch immer wieder, mit Freunden die jüdischen Feiertage etwas größer zu begehen und eben auch auf philosophische, künstlerische und ästhetische Fragen zurückzukommen.

Mit dem Künstler sprach Eugen El.

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