Heidelberg

Hunger nach Wissen

Der Präsident des Zentralrats der Juden, Dieter Graumann, hat in der vergangenen Woche im Rahmen der »Heidelberger Hochschulreden« der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg (HfJS) an der Ruprecht-Karls-Universität die »Pläne, Positionen, Perspektiven« der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland skizziert. Dabei sagte er: »Wir wollen ein Judentum in Deutschland aufbauen, das seine Schätze frei lebt und begeistert auslebt. Wir wollen eine ganz neue jüdische Gemeinschaft aufbauen mit einem Perspektivwechsel und Optimismus und dem Anspruch, das Judentum modern, frisch und positiv zu positionieren.«

Gleich zu Beginn seiner 45-minütigen, frei vorgetragenen Rede in der Alten Aula der Universität betonte Graumann die überragende Bedeutung von Wissen und Bildung für das Judentum. Dabei würdigte er auch die HfJS als »Ort und Hort von jüdischem Wissen«, der eine noch größer werdende Rolle spielen sollte. »Hier an diesem Ort kann man den Hunger nach Wissen fast mit Händen greifen«, sagte der Zentralratspräsident.

Zuwanderung Wissen und Bildung seien, so Graumann, eng »verknüpft mit der Geschichte des Judentums« und hätten im Judentum immer einen besonderen Rang gehabt. Nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem seien »an die Stelle der verlorenen Heimat die Schriften gerückt«, die somit den Status eines »portativen (tragbaren) Tempels« erhalten hätten. Die »singuläre Wertschätzung von Wissen« habe dazu geführt, dass im Judentum »die Gelehrten die Geehrten« seien.

Das Thema Bildung erlaubte es Graumann, elegant zum Aspekt der jüdischen Zuwanderung aus der früheren Sowjetunion überzuleiten. Denn obwohl dort nur etwa ein Prozent der Bevölkerung jüdisch war, hätten Juden »in jedem akademischen Jahrgang zehn bis 15 Prozent der neuen Akademiker ausgemacht«, führte der Präsident aus. Das habe auch das Bild der jüdischen Einwanderung geprägt. »Diejenigen, die zu uns gekommen sind, sind überdurchschnittlich gebildet, akademisiert, und das spürt man auch an ihren Kindern und Kindeskindern, die erfüllt sind von einem Bildungshunger, einer Lernbereitschaft, wie wir das bei unseren Kindern, die schon hier waren, gar nicht mehr so ohne Weiteres vorfinden.«

Entschieden wandte sich Graumann gegen die Rolle des Zentralrats als moralische Instanz, die nur kritisiere. »Wir brauchen keine Empörungsrituale, wir brauchen Kreativität und Fantasie. Wir Juden wollen nicht nur kritisieren, wir wollen auch inspirieren«, sagte er. »Wir wollen nicht nur laut hinausschreien, wogegen wir sind, sondern auch, wofür überhaupt. Und gerade da kann und soll und muss uns unsere Jüdische Hochschule mit jüdischer Substanz helfen, und das macht sie auch.«

Debatten Doch der Zentralratspräsident verschwieg auch nicht die Herausforderungen, mit denen sich die jüdische Gemeinschaft in Deutschland konfrontiert sieht. Als Beispiele nannte er die Beschneidungsdebatte, antisemitische Übergriffe, israelfeindliche Äußerungen von Intellektuellen wie Günter Grass oder Jakob Augstein, den Streit um das NPD-Verbotsverfahren sowie den Umstand, dass die öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF die Feierstunde des Bundestages zum Holocaust-Gedenktag in diesem Jahr erstmals nicht in ihrem Hauptprogramm übertragen haben.

Gleichwohl machte Graumann klar: »Ein eingeschüchtertes Judentum in Hinterzimmern wird es nicht geben. Wir werden jetzt sogar noch entschlossener, mit Leidenschaft und Herzblut unsere frische, positive, jüdische Zukunft hier aufbauen: aktiv, innovativ, offensiv und kreativ.«

Mit dieser positiven Note schloss Graumann den Kreis zum Thema Bildung: »Wir haben Ende Januar in Berlin unsere neue Bildungsabteilung begründet, etwas, das einmal wachsen soll zur Jüdischen Akademie. Das hat es in Deutschland seit vielen, vielen Jahrzehnten nicht mehr gegeben. Eine Art Volkshochschule für jüdische Erwachsene, später auch für andere, die sich Kenntnisse im Judentum aneignen wollen, im Bereich von Religion, von Politik, von Musik, von Philosophie, von Kunst.« So hob Dieter Graumann zum Abschluss hervor, dass jüdisches Leben in Deutschland wieder geprägt sei von »Optimismus, Stärke und Zukunft«.

Hans-Jürgen Papier

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