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Gruppenbild ohne Damen

Nicht nur die Europäer blicken derzeit mit verzweifelter Verwunderung auf die amerikanischen Vorwahlen. Auch die ultraorthodoxe Zeitung »Hamodia« verfolgt die Ereignisse mit leichtem Unbehagen. Doch im Gegensatz zu Ersteren quält Hamodia nicht die Frage, wie sich die amerikanische Politik unter einem Präsidenten Donald Trump wohl entwickeln würde.

Die US-Zeitung wird vielmehr von der Sorge umgetrieben, dass mit Hillary Clinton als Nächstes ein weiblicher Präsident ins Weiße Haus einziehen könnte. Die Medienorgane der Charedim in den USA und Israel haben es sich zum Grundsatz gemacht, keine Bilder von Frauen zu veröffentlichen. Aber, so fragt man sich bei Hamodia: Was tun, wenn erstmals in der Geschichte eine Frau kein geringeres Amt als das des Staatsoberhaupts der Vereinigten Staaten von Amerika bekleiden wird?

»unzüchtig« Ausgerechnet Hillary Clinton hat der Zeitung schon einmal eine Rüge des Weißen Hauses eingebracht. Als im Mai 2011 Soldaten der Navy Seals Osama bin Laden erschossen und das Bild des amerikanischen Präsidenten Barack Obama und seiner Mitarbeiter um die Welt ging, druckte dies auch Hamodia. Allerdings hatten die Zeitungsmacher die damalige Außenministerin Clinton herausretuschiert – um die frommen Leser nicht mit »unzüchtigen« Bildern vor den Kopf zu stoßen.

Solches Vorgehen ist mittlerweile eine verbreitete Praxis und sorgt immer wieder für Skandale. Auch israelische Parlamentarierinnen ereilte dieses Schicksal bereits. So verpixelten ultraorthodoxe Medien in Israel im Mai 2015 kurzerhand die Gesichter der weiblichen Mitglieder der neu ins Amt gewählten Regierung.

Hamodia-Herausgeberin Ruth Lichtenstein verteidigte das Vorgehen in einem Interview gegenüber dem »Columbia Journalism Review«. »Wir können uns auf Tausende Jahre jüdischer Tradition stützen«, erklärte sie dem New Yorker Journalisten Ari L. Goldman.

Bilderverbot Befürworter wie Gegner solcher Praktiken mögen diese Einschätzung teilen. Einige mögen sie einfach als rückständig und »mittelalterlich« abtun. Solch einer Argumentation zu folgen, hieße jedoch, der Selbstdarstellung ultraorthodoxer Apologeten auf den Leim zu gehen. Denn die übermäßige Betonung frommer Sittsamkeit, die hinter dem Bilderverbot steht, hat weit mehr mit der Moderne und ihren Herausforderungen zu tun, als Ruth Lichtensteins Aussage vermuten lässt. Schon die Internetpräsenz von Hamodia und anderen Zeitungen weist auf die Bereitschaft hin, sich dem Wandel der Zeit anzupassen.

Denn auch die Ultraorthodoxie selbst wurde freilich nicht von Moses auf dem Berg Sinai verkündet, sondern ist ein Kind der Moderne. Grund für ihre Entstehung waren die Umbrüche, die das europäische Judentum im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ereilten. In Mittel- und Osteuropa waren religiöse Autoritäten und politische Akteure damals darum bemüht, ihre Gemeinden gegenüber den säkularen Einflüssen abzuschirmen. Um dies zu erreichen, entschieden sie sich für immer restriktivere Auslegungen des jüdischen Gesetzes und verschärften religiöse Standards. Manch einem mögen ultraorthodoxe Normen archaisch anmuten. Ihre Separatgemeinden jedoch sind eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, und glattkoscheres Fleisch als Standard für die frommen Massen ist nicht minder modern als der Hamburger.

Die Frage nach dem Verhältnis der Geschlechter und der Stellung der Frau geriet früh in den Fokus dieser Auseinandersetzungen. Neben den üblichen Kämpfen um patriarchalische Strukturen geht es dabei bis heute aber auch um die besondere Rolle, die die Frau unter Charedim für den Broterwerb ihrer Familie spielt. Was einstmals einer kleinen Elite vorbehalten war, haben Charedim zum Ideal der – männlichen – Massen erhoben: das lebenslange Vollzeitstudium religiöser Texte. Während die Männer ihre gesamte Aufmerksamkeit den Feinheiten talmudischer Diskussionen widmen, sorgen charedische Frauen oftmals für den ökonomischen Erhalt der Familie, insbesondere in Israel.

Verdrängung Die Frau bäckt demnach nicht nur die koscheren Brötchen, sondern verdient sie auch. Darüber hinaus bringt ihre Arbeit viele dieser Frauen tagtäglich mit der säkularen Umgebung und deren Werten und Verlockungen in Kontakt. In vielerlei Hinsicht leben also ultraorthodoxe Männer und Frauen sprichwörtlich in verschiedenen Welten. Eine der Strategien, um mit hierdurch hervorgerufenen Spannungen umzugehen, ist die übermäßige Betonung weiblicher Züchtigkeit und eine damit einhergehende Verdrängung von Frauen aus dem öffentlichen Raum.

Es kann kaum verwundern, dass dieses Phänomen vor allem in Jerusalem und in Bnei Brak wildeste Blüten treibt. Hier nimmt nicht nur die Länge der Röcke und Ärmel der weiblichen Bevölkerung von Jahr zu Jahr zu; Frauen verschwinden auch zunehmend von Werbeplakaten und generell aus dem öffentlichen Raum. Dazu passend ist hier ein bitterer Streit um die Trennung der Sitzplätze von Frauen und Männern in öffentlichen Bussen entbrannt, die charedische Interessenvertreter seit den 90er-Jahren durchzusetzen versuchen.

Solche »extra-koscheren« Busse stießen allerdings rasch auf den Widerstand säkularer Israelis, die sich an die amerikanische Rassentrennung erinnert sahen. Eine israelische Rosa Parks und der Oberste Gerichtshof machten den Bestrebungen erst einmal ein Ende, zumindest in den Bussen der staatlichen Busgesellschaften. Einmal mehr verdeutlichen diese Kämpfe jedoch, dass es sich hier nicht um altehrwürdige Traditionen handelt, sondern um dynamische Prozesse, die selbst das Produkt gesellschaftlicher Spannungen und Veränderungen sind.

selbstbewusst Gewarnt sei aber davor, solche Entwicklungen lediglich als Anwachsen eines religiösen Extremismus abzutun. Sicher, religiös-konservative Stimmen haben in Israel an Gewicht gewonnen. Doch die schriller werdenden Töne haben ihre Ursache auch in der ultraorthodoxen Gesellschaft selbst. Unter den Blicken der Rabbiner entwickelt sich hier eine Bewegung, die zwar tunlichst das Label des Feminismus vermeidet, aber doch eben immer offensiver emanzipatorische Forderungen stellt. Bei einer Beschäftigungsrate von 75 bis 80 Prozent liegt es nahe, dass einige charedische Frauen nicht nur immer selbstbewusster auftreten, sondern auch offensiver nach Bildung und beruflicher Karriere streben.

Eine dieser Frauen ist Adina Bar-Shalom, die Tochter des verstorbenen sefardischen Oberrabbiners Ovadia Josef. Bar-Shalom ist die Gründerin des ersten charedischen College in Israel. Auch in anderen Fällen hat sie unter geschickter Nutzung ihrer Position damit begonnen, Veränderungsprozesse in ihrer Gesellschaft anzustoßen. Für ihre Verdienste erhielt sie die höchste Auszeichnung des Staates Israel, und selbst für das Amt des Präsidenten wurde sie bereits vorgeschlagen.

Solch ein Vorhaben verwarf sie zwar, doch auch die Vorstellung einer charedischen Politikerin ist nicht völlig absurd. Vor den letzten Wahlen etwa machte eine Gruppe ultraorthodoxer Frauen auf sich aufmerksam, die unter dem Motto »No Voice« dazu aufrief, Parteien ihres Milieus zu boykottieren, solange diese keine weiblichen Vertreter aufstellen.

veränderungen Selbst wenn diese Stimmen noch in der Minderheit sind, so werden sie doch stetig lauter und fordern etablierte Denkweisen und Machtstrukturen heraus. Auch in den USA machen sich solche Prozesse bemerkbar. Nicht zuletzt hat selbst Hamodia einen weiblichen Herausgeber, wie eingangs erwähnt. Ob Ruth Lichtenstein sich dazu durchringen wird, Hillary Clinton jemals abzudrucken, bleibt abzuwarten.

Unabhängig vom Ausgang der Wahlen und der Entscheidung der ultraorthodoxen Zeitung wird auch in Zukunft die Frage nach der Rolle der Frau in der charedischen Gemeinschaft eine wichtige sein. Sie wird sie dazu zwingen, dynamisch zu bleiben – und sich auch entgegen der eigenen Selbstdarstellung stetig weiterzuentwickeln.

Der Autor ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur sowie Koordinator des Zentrums für Israel-Studien an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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