Literatur

Grauen als Groteske

Schriftsteller Edgar Hilsenrath gestorben. Der Schoa-Überlebende wurde 92 Jahre alt

von Nada Weigelt  01.01.2019 14:26 Uhr

Edgar Hilsenrath: Er starb am Sonntag in Wittlich, Rheinland-Pfalz Foto: dpa

Schriftsteller Edgar Hilsenrath gestorben. Der Schoa-Überlebende wurde 92 Jahre alt

von Nada Weigelt  01.01.2019 14:26 Uhr

Als Zwölfjähriger musste er vor den Nazis nach Rumänien fliehen, drei Jahre später wurde er in ein Ghetto in die Ukraine deportiert. Der deutsch-jüdische Schriftsteller Edgar Hilsenrath hat die Grauen der NS-Diktatur nie vergessen, sich aber nicht verbittern lassen.

Einen Tag vor Silvester starb der gebürtige Leipziger mit 92 Jahren in der Eifel an den Folgen einer Lungenentzündung. »Er hat bis zum Schluss gekämpft, aber am Ende reichte dann doch die Kraft nicht mehr«, sagte seine Frau Marlene der Deutschen Presse-Agentur.

Mit der Groteske Der Nazi & der Friseur hatte Hilsenrath in den 70er-Jahren international den großen Durchbruch gefeiert. In den USA, Frankreich und Italien wurden seine Bücher schnell Bestseller, weltweit verkauften sich über fünf Millionen Exemplare. Allein Der Nazi & der Friseur ist in mehr als zwei Dutzend Ländern erschienen, in China mit einem Vorwort von Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller.

Mit »Der Nazi & der Friseur« hatte Hilsenrath in den 70er-Jahren international den großen Durchbruch gefeiert.

In Deutschland musste der gebürtige Leipziger damals allerdings erst bei 60 Häusern vorstellig werden, ehe er einen Verlag fand. »Die Schoa aus der Sicht eines Täters zu erzählen, war sehr kontrovers«, sagte Hilsenrath der dpa in einem Interview zu seinem 85. Geburtstag. »Die Deutschen wollten keine Groteske über den Holocaust, da hatten sie Gewissensbisse.« Inzwischen gibt es zahlreiche Ausgaben, immer wieder kommt der Roman auch als Stück auf die Bühne.

DEBÜTROMAN Erstmals auf sich aufmerksam gemacht hatte der Sohn eines jüdischen Kaufmanns mit seinem Debütroman Nacht (1954). Erschütternd erzählt er aus seiner Zeit mit der Familie im Ghetto in der Ukraine – ein erbarmungsloser Bericht über den Überlebenskampf »Verlorener« in einer Endstation für deportierte Juden.

Nach der Befreiung durch die Rote Armee schlug sich der damals 18-Jährige zunächst bis Bukarest und schließlich nach Israel durch. Doch das Land blieb ihm fremd. Nach einer Zwischenstation in Frankreich landete er 1951 schließlich in den USA, wo er sich anfangs als Kellner, Bürobote und Nachtportier über Wasser hielt.

RÜCKKEHR Erst 1975 entschloss sich der Autor zu einer Rückkehr ins Land der Täter. »In Amerika war ich auf verlorenem Posten mit der deutschen Sprache«, sagte er. Doch bei der deutschen Kritik sorgte die Trauerarbeit des Zeitzeugen mit ihrer ungewohnten Mischung aus nacktem Grauen und schwarzem Humor lange für Unverständnis. Angesichts von sechs Millionen ermordeten Juden erschienen seine überwiegend im Dialog verfassten Erzählungen manchem als Tabubruch.

Zum Erfolg von Der Nazi & der Friseur trug 1977 entscheidend Heinrich Böll bei, der in einer Besprechung für die Zeit die verstörende Sprache als »düstere und stille Poesie« lobte. In der Slapstick-Satire geht es um einen SS-Mörder, der nach Kriegsende die Identität eines seiner Opfer annimmt. Für sein späteres Werk Das Märchen vom letzten Gedanken, das sich mit den Gräueltaten an den Armeniern in der Türkei auseinandersetzt, erhielt Hilsenrath 1989 den Alfred-Döblin-Preis.

»Ich gehöre zu den wenigen Juden meiner Generation, die ohne Hassgefühle in Deutschland leben.«

Seine wohl letzte Auszeichnung war 2016 der Hilde-Domin-Preis der Stadt Heidelberg. Sein Lebenswerk verleihe der Erfahrung von Exil »in literarisch einzigartiger, kühner Weise Ausdruck«, hieß es in der Begründung der Jury. »Der Ort seines Erzählens ist das Lachen, das einem im Halse stecken bleibt – zwischen Zynismus, Trauer und Selbstbehauptung.«

Durch Schlaganfälle und Diabetes gesundheitlich angeschlagen, aber hellwach, lebte Hilsenrath lange in Berlin. Später zog er in die Eifel, wo sich seine zweite Frau Marlene (63) bei den Linken engagiert. Sie war dabei, als er in der Nacht vor Silvester im Krankenhaus im rheinland-pfälzischen Wittlich starb.

»Ich gehöre zu den wenigen Juden meiner Generation, die ohne Gram und ohne Hassgefühle in Deutschland leben«, hatte er in dem Geburtstagsinterview nicht ohne Stolz gesagt. »Das ist wirklich mein Zuhause.«

Kommentar

Bleibt stark, Emily, Romi und Doron!

Die drei jungen Frauen sind endlich in Israel. Emily Damari gab nach ihrer Freilassung ein Zeichen, das ihren Schmerz zeigt – aber viel mehr noch ihre Kraft

von Katrin Richter  19.01.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Katrin Richter  19.01.2025

Meinung

Verrat an Frauen und an der Mitmenschlichkeit

Wie viele Fälle sadistischer Gewalt müssen noch nachgewiesen werden, damit die Welt endlich Mitgefühl mit den Opfern des 7. Oktober zeigen kann?

von Sarah Maria Sander  19.01.2025

Gedenkkultur

Virtuell zu Besuch bei Überlebenden des Holocaust

Es gibt immer weniger Schoa-Überlebende. Wie können ihre Erinnerungen weitergegeben werden? Ein neues Projekt setzt auf »Virtuelle Begegnungen«

von Michael Grau  19.01.2025

TV-Tipp

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Drama über einen jüdischen Belgier, der als angeblicher Perser in einem Konzentrationslager einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll

von Michael Ranze  19.01.2025

Doku

Über eine weitreichende Unwahrheit

»W. – was von der Lüge bleibt« (2020) nähert sich der Lebensgeschichte von Bruno Dösekker alias Wilkomirski, der die Identität eines Schoa-Überlebenden annahm

von Silvia Bahl  17.01.2025

Sehen!

»Traumnovelle«

Der Film arbeitet sich an den sieben anekdotischen Kapiteln der literarischen Vorlage von Arthur Schnitzler entlang

von Britta Schmeis  17.01.2025

Kino

»Wie eine Art Heimkehr«

Schauspielerin Jennifer Grey über den Film »A Real Pain« und Dreharbeiten in Polen

von Patrick Heidmann  16.01.2025

Nachruf

Der Soziologe und das »Gedächtnistheater«

Eine persönliche Erinnerung an Y. Michal Bodemann, der sich unter anderem mit Erinnerungspolitik in Deutschland beschäftigte

von Janine Cunea  16.01.2025