Debatte

Grass und die 6 Millionen

»Der Holocaust war nicht das einzige Verbrechen«: Günter Grass Foto: imago

Was ist in Günter Grass gefahren? Ist der sozialdemokratische Schriftsteller auf einem Horst-Mahler-Trip? Was der Literaturnobelpreisträger in einem Interview mit Tom Segev in Ha’aretz am 26. August sagte, liest sich jedenfalls wie klassische Aufrechnungsmythen aus der neonazistischen und rechtsextremen Ecke. »Von acht Millionen deutschen Soldaten, die von den Russen gefangen genommen wurden, haben vielleicht zwei Millionen überlebt, und der ganze Rest wurde liquidiert. ... Ich sage das nicht, um das Gewicht der Verbrechen gegen die Juden zu vermindern, aber der Holocaust war nicht das einzige Verbrechen.«

falsche zahlen Erst einmal: Die Zahlen stimmen nicht: Es sind in sowjetischer Gefangenschaft rund eine Million Wehrmachtssoldaten umgekommen, sagen die Historiker, und sie wurden auch nicht »liquidiert«. Wie Grass auf ausgerechnet sechs Millionen kommt, bleibt das Geheimnis seines Unterbewusstseins. Zum Rechten macht das den Autor aber nicht unbedingt. Mit seinen Sprüchen bewegt er sich durchaus im linksliberalen Mainstream. Der ebenfalls vom Selbstverständnis her progressive Historiker Jörg Friedrich etwa hat 2002 in seinem Bestseller Der Brand die alliierten Bombenangriffe auf deutsche Städte im Zweiten Weltkrieg bewusst mit Holocaust-Vokabeln wie »Einsatzgruppen« und »Krematorien« beschrieben.

gutes gewissen Hannah Arendt fiel bei Unterhaltungen mit wohlmeinenden Deutschen nach 1945 auf, dass, wenn die Rede auf die Naziverbrechen kam, ihre Gesprächspartner versuchten, das Thema schnell auf einer allgemeinmenschlich-moralischen Ebene zu verhandeln, wohl, wie die Philosophin analysierte, um der unangenehmen Frage nach der konkreten eigenen Verantwortung auszuweichen.

Dieses Phänomen lebt in Deutschland bis heute fort, vom Stammtisch bis zum Feuilleton. Da wird von einer (nebenbei bemerkt, unangenehm anmaßend wirkenden) hypermoralischen Warte aus sämtliches Unrecht dieser Welt umstandslos in einen Topf geworfen und mit dem deutschen Völkermord an den europäischen Juden gleichgesetzt. Alles ist Holocaust, vom Bürgerkrieg in Jugoslawien über Tierversuche bis zu, natürlich, der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern.

Und weil man von der hohen Warte der universellen Moral aus urteilt, beißt nichts das gute Gewissen. Wenn Rechte dasselbe sagen würden, wäre das ein Skandal. Aber man ist ja fortschrittlich und somit per definitionem von jedem Verdacht frei. Günter Grass’ Äußerungen zur Schoa waren dumm und obszön. Singulär sind sie leider nicht.

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Katrin Richter  28.03.2024

Sachbuch

Persönliches Manifest

Michel Friedman richtet sich mit seinem neuen Buch »Judenhass« bewusst an die allgemeine Öffentlichkeit, er appelliert aber auch an den innerjüdischen Zusammenhalt

von Eugen El  28.03.2024

USA

Daniel Kahneman ist tot

Der Wissenschaftler Daniel Kahneman kombinierte Erkenntnisse aus Psychologie und Ökonomie

 28.03.2024

Bildung

Kinderbuch gegen Antisemitismus für Bremer und Berliner Schulen

»Das Mädchen aus Harrys Straße« ist erstmals 1978 im Kinderbuchverlag Berlin (DDR) erschienen

 27.03.2024

Bundesregierung

Charlotte Knobloch fordert Rauswurf von Kulturstaatsministerin Roth

IKG-Chefin und Schoa-Überlebende: »Was passiert ist, war einfach zu viel«

 26.03.2024

Kultur

Über die Strahlkraft von Europa

Doku-Essay über die Theater-Tour von Autor Bernard-Henri Levy

von Arne Koltermann  26.03.2024

Projekt

Kafka auf Friesisch

Schüler der »Eilun Feer Skuul« in Wyk auf Föhr haben ihre friesische Version des Romans »Der Verschollene« vorgestellt

 25.03.2024

Berlin

Hetty Berg als Direktorin des Jüdischen Museums bestätigt

Ihr sei es gelungen, die Institution »als Leuchtturm für jüdisches Leben« weiterzuentwickeln, heißt es

 25.03.2024

Judenhass

Wie der Historikerstreit 2.0 die Schoa relativiert

Stephan Grigat: Der Angriff auf die »Singularität von Auschwitz« kommt nun von links

 25.03.2024