Medizin

Geschluckt, nicht geraucht

Das Marihuana der Firma Tikkun Olam enthält einen entzündungshemmenden Wirkstoff, der auch Schmerzen lindert. Foto: Thinkstock, (M) Frank Albinus

Als die Hippies der 60er-Jahre Marihuana für sich entdeckten, konnten sie nicht ahnen, dass die Droge Jahrzehnte später unter bestimmten Umständen legal in Apotheken abgegeben werden würde. Mittlerweile ist Cannabis für Menschen, die etwa an Parkinson, multipler Sklerose, posttraumatischem Stress oder Krebs leiden, ein wichtiger Bestandteil der Behandlung. Was die Vorfahren eben dieser Hippies nicht überrascht haben dürfte: Die älteste erhaltene Schrift, in der Cannabis erwähnt wird, ist ein rund 4700 Jahre altes Lehrbuch aus China über Pflanzenkunde und Heilkunst. In einem 2000 Jahre jüngeren indischen Werk wurde Hanf zur Schmerzlinderung und gegen Epilepsie empfohlen.

Die Kreuzritter brachten die Pflanze Ende des 11. Jahrhunderts nach Europa. Die Heilkundigen jener Zeit setzten Cannabis unter anderem bei Rheuma und Atemwegserkrankungen ein – und als vor allem in wärmeren Regionen recht einfach anzubauenden Ersatz für das teure Opium. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war Marihuana ein wichtiger Bestandteil von Arzneien, die gegen Kopfschmerzen, Schlafstörungen oder Epilepsie verschrieben wurden. Erst als es möglich wurde, synthetische Medikamente zu entwickeln, verlor Cannabis in der Medizin an Bedeutung. Die industriell gefertigten Arzneien hatten den Vorteil, dass die künstlich hergestellten Zutaten genau dosiert werden konnten und keinen natürlichen Schwankungen unterlagen.

Das Ende von Cannabis in der Medizin begann 1925 mit der 2. Opiumkonferenz. Auf der Vorgängerveranstaltung um die Jahreswende 1911/12 war das erste internationale Abkommen gegen den Rauschgifthandel geschlossen worden. 13 Jahre später stand ein Verbot weiterer Drogen wie Heroin und Kokain auf der Agenda – Ägypten wollte jedoch auch Cannabis mit einbeziehen. Und machte Druck: Deutschland, das keinen Grund sah, die Hanfpflanze zu verbieten, wurden Importbeschränkungen für das von Merck und Bayer hergestellte Heroin und Kokain angedroht. Die um ihre Geschäfte fürchtenden Hersteller intervenierten bei der deutschen Regierung, und 1929 wurde Cannabis verboten.

Renaissance Inzwischen erlebt Cannabis als Heilpflanze eine Renaissance – und in Israel arbeitet man intensiv daran, die bisherigen Einsatzmöglichkeiten zu optimieren. »Wenn die Menschen erst einmal mitbekommen, wie sehr Kranke von medizinischem Marihuana profitieren, werden alle Bedenken verfliegen«, sagte der israelische Informationsminister Yuli Edelstein kürzlich während einer Besichtigung der Anbaufelder von Tikkun Olam. Die größte von insgesamt acht Farmen des Landes versorgt insgesamt 2000 Patienten mit Cannabis auf Rezept; abgeholt werden kann es entweder direkt in den Geschäftsräumen der Firma oder in einer Apotheke. Seit 1990 ist Cannabis zu medizinischen Zwecken in Israel erlaubt, allerdings in streng begrenztem Maß.

Wissenschaftler fordern nun mehr Möglichkeiten, die Pflanze zu erforschen, und begründen dies mit bereits erzielten Fortschritten: 2012 entwickelte Tikkun Olam eine neue Marihuana-Varietät, die mittlerweile schon ein Viertel der Kunden benutzt. Der Wirkstoff THC, der den Erfolg des Cannabis als Droge ausmachte, wurde aus den Pflanzen herausgezüchtet, während sie ihre wertvollen medizinischen Eigenschaften behalten. Außerdem enthalten sie große Mengen CBD, ein entzündungshemmender Wirkstoff, der in der Schmerzbekämpfung erfolgreich eingesetzt wird. Zach Klein, Forschungschef des Unternehmens, erklärte gegenüber »Times of Israel«, die neue Varietät sei »erst der Anfang«, in Zukunft seien weitere Marihuana-Medikamente zu erwarten.

Herausforderung Auch Itay Goor Aryeh, der das Schmerzzentrum im Sheba Medical Center leitet, erhofft sich weitere Fortschritte. THC sei 1964 zum ersten Mal von israelischen Wissenschaftlern isoliert worden, sagt er, »wir sind ganz vorn mit dabei, wenn es um die Erforschung der Pflanze geht«. Aryeh setzt sich vehement dafür ein, dass die Behörden weitere Forschungen erlauben. Cannabis habe eine Menge Vorteile gegenüber herkömmlichen Medikamenten: Es sei nicht nur sehr kostengünstig herzustellen, sondern reduziere auch den Bedarf der Patienten an anderen Substanzen wie Morphium, deren Nebenwirkungen gravierend sein können.

So sieht das auch Ruth Gallily, Professorin für Immunologie an der Hebräischen Universität Jerusalem. Sie untersucht schon länger die entzündungshemmende Wirkung von CBD, das in der neuen Cannabis-Varietät enthalten ist. »Wir sind nun endlich an dem Punkt angekommen, an dem Cannabis nicht mehr automatisch als böse gilt, aber es liegt noch ein weiter Weg vor uns. Die nächste Herausforderung wird sein, dass die großen Pharmahersteller die Pflanze als Heilmittel akzeptieren.«

Unter denjenigen, die mit Cannabis behandelt werden, sind auch Bewohner des Hadarim-Pflegeheims. Die Senioren seien insgesamt positiver gestimmt, berichtet eine Mitarbeiterin, außerdem hätten sie wieder mehr Appetit. Der Bewohner Moshe Rute erklärte, das Cannabis verändere seine Lebensrealitäten nicht, mache es ihm aber einfacher, sie zu akzeptieren. Rute, der die Nazizeit versteckt überlebte, litt nach dem Tod seiner Frau plötzlich wieder unter den Albträumen seiner Kindheit. Cannabis habe ihm geholfen, sie zu überwinden: »Nun bin ich 80 und immer noch ein Kind des Holocaust, aber endlich kann ich damit besser umgehen.«

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