Jerusalem

Geschichten, die wehtun

Der Auftakt hätte symbolträchtiger kaum sein können. Präsident Reuven Rivlin war gekommen, stand auf der Bühne im Veranstaltungszelt vor der Abendkulisse der Jerusalemer Altstadt und sagte: »Geschichten erzählen uns, wer wir sind, als Individuen und als Nation.

Wenn der Autor wirklich gut und der Leser bereit ist, sich anzustrengen, können Geschichten uns zu besseren Menschen machen, indem sie uns andere Geschichten erzählen von uns selbst und von der Welt als die, die wir schon kennen. Nur eine Geschichte zu haben, ist gefährlich. Es blockiert unsere Sicht. Es verschließt unsere Ohren. Es schnürt uns das Herz zu.«

Und so viel stand schon nach wenigen Minuten des viertägigen Festivals der internationalen Schriftsteller fest: Selten war die Konferenz so politisch aufgeladen wie in diesem Jahr. Das hatte auch damit zu tun, dass nach Rivlins Worten der israelische Autor David Grossman und sein irischer Kollege Colum McCann über das Schreiben in Krisenzeiten und über die Konflikte in ihren Ländern sprachen.

Ein Literaturfestival in Israel, ja, Bücher aus Israel – können sie überhaupt frei von Politik sein? Mit Blick auf die teilnehmenden Autoren, deren Werke und auf die Themen scheint es, als ob auch die Literatur des Landes unweigerlich mit Politik verbunden ist. »Eine Möglichkeit von Gewalt: Leben im Schatten von Terrorismus« und »Live vom Schlachtfeld« lauteten die Titel von zwei der Diskussionsrunden.

Indien Doch es ging dabei um mehr als nur den Nahen Osten. Schriftsteller aus der ganzen Welt waren dabei, darunter Mai Jia, Gary Shteyngart und Juan Gabriel Vásquez. »Im Zentrum stehen internationale Kooperationen. Das Festival ist von Natur aus international ausgerichtet«, sagte der Direktor Moti Schwarz. Die Autoren aus China, Kolumbien, den USA oder Indien trafen auf israelische Autoren wie Etgar Keret, Sami Michael, Meir Shalev oder A.B. Jehoschua.

Ebenfalls mit internationaler Ausrichtung tauchte das Thema Politik immer wieder auf. Selbst in Diskussionsrunden, die zunächst ganz und gar nicht danach klangen. Die Israelin Zeruya Shalev etwa unterhielt sich mit ihren beiden indischen Kolleginnen Anita Desai und deren Tochter Kiran über literarische Einflüsse, die Beziehungen zu Eltern und anderen Verwandten, die ebenfalls Autoren oder – wie Shalevs Vater – Literaturkritiker sind.

Moderatorin Tamar Merin fragte dann aber doch im Laufe des Gesprächs, wie es um die Politik steht. Man sei ja schließlich in Israel. Den indischen Autorinnen geht es da nicht anders als vielen Israelis: »Amerikanische Autoren können in einer Welt leben, die nicht von der Politik durchdrungen wird. In Indien ist das unmöglich«, so Anita Desai.

Zeruya Shalev hat es in ihren Werken zumindest immer wieder versucht. »Es war anfangs eine bewusste Entscheidung, wie eine Rebellion«, erzählte sie. Als Israelin könne sie sich der Politik zwar nicht entziehen, aber die Welt in ihren Büchern wollte sie davor schützen. Dass sie in ihren Geschichten lange im Privaten blieb, wurde ihr immer wieder vorgeworfen – und für manche Kritiker war es gar unvorstellbar: »Manche dachten, in den Konflikten meiner Protagonisten spiegelt sich der Nahostkonflikt wider. Sie fragten mich: Stellt diese Figur jetzt Israel oder Palästina dar?«

präsent In ihrem jüngsten Roman Schmerz hat sich die Politik dann aber doch in das Leben ihrer Protagonisten geschlichen – wie auch in ihr eigenes, wirkliches Leben: Sowohl Zeruya Shalev als auch ihre Protagonistin Iris wurden Opfer eines Terroranschlags, den sie schwer verletzt überlebten und der ihr Leben veränderte. Die Politik dringt ins Private. Und selbst im Ausland kann sich Zeruya Shalev dem Konflikt in ihrer Heimat schwer entziehen. »Das Land lastet schwer auf meinen Schultern«, sagte sie. Wo immer sie hinkomme, sei es Thema – mal werde sie gelobt, mal beschimpft, präsent ist es immer.

Einer, der von Anfang an die Politik in seinen Werken aufgegriffen hat und nie davor zurückschreckt, seine Meinung zu äußern, ist David Grossman. Neun Bücher hat er veröffentlich, in 30 Sprachen wurden sie übersetzt, er hat Literaturpreise gewonnen und zählt zu den bedeutendsten israelischen Autoren der Gegenwart. Mit dem Schriftsteller Colum McCann (Die große Welt), der auch aus einem ehemaligen Konfliktgebiet, Irland, kommt, sprach er über das Schreiben in Krisenzeiten – in nationalen wie persönlichen: Grossmans Sohn Uri fiel 2006 als Soldat im Libanonkrieg.

Schriftsteller seien da, um einen Sinn in all dem zu finden – aber nicht zwingend einen politischen, so McCann. Und: um ganz neue Geschichten zu erzählen und Blickwinkel zu eröffnen – auch wenn sie wehtun, und auch, wenn gerade in Krisengebieten die Geschichten der anderen kaum erträglich sind. »Es ist uns schon fast körperlich unmöglich, zuzuhören«, so David Grossman. In seinem 1987 erschienenen Buch Der Gelbe Wind hatte er versucht, die Komplexität der Realität dieses Konflikts zu schildern und auf die andere Seite zu blicken.

Kritik Grossman nutzte die Bühne am ersten Festivalabend aber auch, um Kritik zu üben: »Israel wird immer schwerer zu verstehen«, sagte er, das Land werde immer weniger einladend. »Es gibt so viel Potenzial, aber wir verschwenden all unsere Energie in einen Krieg, den wir nicht gewinnen können.« So lautet auch der Titel eines seiner Bücher: Diesen Krieg kann keiner gewinnen.

Bei diesen Worten rutschten – die Kritik an Grossman ließ nicht lange auf sich warten – viele Zuhörer nervös auf ihren Stühlen hin und hier, manche blickten einander aufgeregt an und schnaubten. Wie körperlich unangenehm die Geschichten der anderen doch sein können.

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