Frankfurt

Geschichte der Aufarbeitung

Ab November 1945 wurde mit den Nürnberger Prozessen das Prinzip der individuellen Schuld etabliert. Foto: picture-alliance / akg-images

Niemand in Deutschland wollte nach 1945 ein Nazi gewesen sein, niemand wollte für die Verbrechen, die unter der NS-Herrschaft begangen wurden, verantwortlich sein. Angeblich hat auch niemand davon gewusst. Bis in die 60er-Jahre hinein habe die Mehrheitsgesellschaft jede Schuld an der Schoa von sich gewiesen.

Mit diesem Befund eröffnete der Historiker Norbert Frei, Professor in Jena, im Frankfurter Jüdischen Gemeindezentrum eine Konferenz über Schuldverstrickungen im Erinnerungsdiskurs heute. Die Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden und die Berliner Evangelische Akademie hatten dazu eingeladen. 140 Teilnehmer und Teilnehmerinnen waren gekommen.

Tatsächlich habe 1945 das ganze Land Schuld auf sich geladen – wenn auch in individuell unterschiedlichem Maße, betonte Professor Doron Kiesel, Direktor der Bildungsabteilung. Es habe Täter gegeben, die den systematischen Massenmord an den europäischen Juden organisiert und durchgeführt hätten, es gab die opportunistischen Mitläufer und eben auch die Handlanger. Fast alle lebten heute nicht mehr.

ZEITZEUGEN Und auch von den Überlebenden der Verbrechen stehe kaum noch einer als Zeitzeuge zur Verfügung. Dennoch seien die Generationen nach der Schoa eng mit dieser Geschichte verstrickt, stellte die Stuttgarter Psychoonkologin Barbara Traub in ihrem Grußwort als Mitglied des Präsidiums des Zentralrats der Juden fest. Überlebt zu haben sei auch für die Opfer keineswegs nur eine Freude, wenn sie Verwandten, Freunden und Nachbarn nicht beschert gewesen sei.

Mit Ausreden und durch Verdrängung versuchten viele, im neuen Leben alte Schuld zu vergessen.

Davongekommen zu sein, den KZ-Schergen noch nützlich erschienen zu sein, Schutz gefunden oder das Jüdischsein erfolgreich verborgen zu haben – das sei mit Demütigungen und Schuldgefühlen verbunden. Viele Betroffene hätten all dies gern aus ihrer Erinnerung gestrichen.

Kurt Grünberg, Psychologe und Psychoanalytiker vom Frankfurter Sigmund-Freud-Institut, hat mit Überlebenden der Schoa, aber auch mit Angehörigen der Kinder- und Enkelgeneration gearbeitet. Letztere, berichtete er, spürten oft im Schweigen der Eltern und Großeltern über das Erlebte Unsicherheit und Scham. Manche fühlten sich von deren Ängsten und Stimmungsschwankungen überfordert oder von überzogenen Erwartungen und Ansprüchen in der eigenen Entwicklung eingeschränkt. Auf diese Weise erbten sie in anderer Gestalt einen Teil der erlittenen Schmach und der empfundenen Schuld.

Ehemalige Mitglieder der Nazi-Partei, KZ-Wachen, Soldaten der Wehrmacht und Menschen, die zuschauten, als ihre Nachbarn abtransportiert wurden, schwiegen in der Regel gegenüber ihren Nachkommen über Taten oder Untätigkeit. Mit Ausreden und durch Verdrängung suchten sie ihre alte Schuld im neuen Leben zu vergessen. Auch sie bezahlten das Schweigen zuweilen mit psychischen Erkrankungen oder anderen Auffälligkeiten. In den Täter-Familien wurde meist erst geredet, wenn etwas aufgedeckt und öffentlich wurde.

POLITIK Die Politik der Nachkriegsjahre hat dieses Verhalten gedeckt. Kommentatoren wie der Philosoph Hermann Lübbe meinten sogar, dass das Beschweigen der Verbrechen und der Täter eine Voraussetzung dafür gewesen sei, dass nach 1945 der Aufbau einer demokratischen Gesellschaft möglich wurde. Bis heute neigten Gedenkredner dazu, statt deutsche Schuld zu bekennen, die Scham über die geschehenen Verbrechen hervorzuheben, hat der Bielefelder Literaturwissenschaftler Matthias Buschmeier bei der Auswertung von Gedenkfeiern seit 1945 festgestellt. Die Erniedrigung, die mit dem Schamgefühl empfunden werde, die Peinlichkeit, werde so zum Problem und könne neuen Hass hervorrufen.

Schuldanerkennung sei allerdings ein schwieriger Prozess, musste auch Christian Staffa erfahren, Studienleiter der Evangelischen Akademie Berlin. Der heutige Antisemitismusbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland erinnerte an einen Vorwurf aus seiner Kirche, als er bei der 1958 von evangelischen Christen gegründeten Aktion Sühnezeichen aktiv war: »Sie sind es doch, die uns zu geducktem Verhalten zwingen.«

Tatsächlich war gerade unter den Protestanten der Rückhalt für die Nazis groß. Antijudaismus und Judenhass, so Katharina von Kellenbach, Projektleiterin an der Berliner Akademie, hätten lange Zeit nicht als schlecht gegolten, sie seien vielmehr tief in die christliche Lehre eingewoben gewesen. In ihr galten »die« Juden als die, die Jesus ans Kreuz gebracht hätten. Bis zur Anerkennung der Mitschuld der Evangelischen Kirche an der Schoa – etwa 1980 im Rheinischen Synodalbeschluss zum Verhältnis von Christen und Juden – sei ein langer Weg der theologischen Reflexion und der schonungslosen Selbsterkenntnis zu gehen gewesen.

Die ersten bedeutsamen Schritte seien 1965 auf katholischer Seite erfolgt. Die Erklärung Nostra aetate des Zweiten Vatikanischen Konzils habe zugestanden, dass die Kirche für das Leiden und Sterben Jesu weder »alle« Juden seiner Zeit noch »die« Juden heute verantwortlich machen könne. Das Dokument fordere überdies zum brüderlichen Gespräch zwischen Christen und Juden auf und richte sich gegen eine Theologie, die das jüdische Volk als von Gott verworfen darstelle.

Gegen ein ausdrückliches öffentliches Schuldbekenntnis habe allerdings die Lehre von der stets heiligen Kirche gestanden, erläuterte die katholische Theologin Sara Han. Auch heute ist der Antijudaismus in den Kirchen längst nicht überall überwunden, dennoch gibt es mit ihnen heute zahlreiche Foren für einen Dialog auf Augenhöhe. Dort wird nicht nur Schuld thematisiert, sondern auch versucht, Antisemitismus durch Information und Aufklärung zu bekämpfen. Nur, welches Gewicht haben diese Beiträge noch in einer sich weiter säkularisierenden Gesellschaft?

Gerade unter den Protestanten war der Rückhalt für die Nazis groß.

Eine größere Bedeutung kommen heute eher Kunst und Literatur zu, Schuld zu beschreiben und deren vielfältige Konsequenzen zu beleuchten. »Die Gerichtsbarkeit der Dichter beginnt, wo die der rechtlichen Instanzen aufhört«, zitierte in Frankfurt die Hannoveraner Literaturwissenschaftlerin Saskia Fischer den deutschen Nationaldichter Friedrich Schiller. Das Theaterstück Die Ermittlung des Dramatikers Peter Weiss sei dafür ein augenfälliges Beispiel. Es sei 1965 unmittelbar nach dem Ende des Frankfurter Auschwitz-Prozesses auf zahlreichen kleinen und großen Bühnen gespielt worden und habe in Form einer stilisierten Gerichtsverhandlung dessen Verlauf verfremdet und verdichtet wiedergegeben – und somit das bisher wenig Besprochene öffentlich gemacht.

SCHWEIGEN Das Schweigen über die Nazi-Jahre sei nicht gelassen, sondern ein dunkles Verbergen gewesen, betonte die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan am Ende der Tagung. Die Autorin eines vor 25 Jahren erschienenen Buches über Politik und Schuld erklärte, dass sie im Unterschied zu Hermann Lübbe glaube, dass das Beschweigen der Schuld der Demokratie in Deutschland nicht gutgetan habe.

Die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, sei dadurch beschädigt, Selbst- und Fremdvertrauen gestört, Schuld sei verschoben worden, Eltern hätten ihre Glaubwürdigkeit verloren, an die Stelle von offenen Worten sei Verteidigungsrhetorik getreten – um nur einige der von ihr beschriebenen Folgen zu nennen. Gesine Schwan forderte stattdessen eine Kultur des ehrlichen Bekenntnisses und des Verzeihens.

Daniel Neumann, Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen, zweifelte in einem Kommentar die Aktualität einiger ihrer Befunde an, wies aber vor allem darauf hin, dass Verzeihen nicht verordnet werden könne. Aus dem Publikum kam dann auch eine unmissverständliche Reaktion: Verzeihung für die Ermordungen können nur die Toten gewähren.

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