Meinung

Gekaperte Erinnerung

Veranstalter der Konferenz »Hijacking Memory. Der Holocaust und die Neue Rechte« waren das Haus der Kulturen der Welt, das Einstein Forum und das Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Foto: imago images/Andreas Gora

Anfang der 60er-Jahre in Deutschland: Eine jüdische Familie sitzt am Feiertagstisch. Die Eltern, Überlebende der Schoa aus Polen, mit ihren beiden Kindern. Die Eltern mit leeren Augen. Die Familie lebt im Feindesland. Nicht mit am Tisch sitzen die vier Großeltern. Auch nicht die Brüder und Schwestern der Großeltern, auch nicht deren Kinder.

Auch nicht am Tisch sitzen die 14 Onkel und Tanten der Kinder und deren Kinder. Eine sehr große Familie, streng religiös, durchaus keine Zionisten. Erlösung sahen sie noch 1939 im Gottesglauben. Wohl mehr als 100 hätten am Tisch Platz finden können. Wo waren sie alle? Der kleine Junge am Tisch schaute die Eltern an. Wo sind sie alle? »Sie sind dort geblieben«, antworteten sie auf Jiddisch. »Sey sennen dortn geblibn.« Der kleine Junge verstand das »dort« nicht. Wo genau war denn dieses Dort?

SCHULE Er verstand damals nicht, dass die Deutschen 1939 nach Polen einmarschierten und die Familie damit ausgelöscht war. Er ging in Deutschland zur Schule, der einzige jüdische Junge in der Klasse. Warum er überhaupt in Deutschland in die Schule ging, hat er nie richtig verstanden. Wie konnte man mit Deutschen den gemeinsamen Raum teilen, nach dem, was geschehen war?

Das waren diffuse Gedanken. Die anderen Mitschüler hatten alle Verwandte – Opa und Oma, die man in den Ferien besuchte, Onkel und Tanten, Cousinen, die man am Wochenende traf. Sie aber waren nur zu viert, 20 Jahre danach am Tisch.

Erst ein paar Jahre später verstand er, dass diese große Familie vergast und verbrannt wurde. Er trug wie viele andere jüdische Kinder den Vornamen des vergasten Großvaters, ein Gelehrter und Chassid, der sein Leben damit verbrachte, die Schriften zu lernen und Gott zu vertrauen. Niemand blieb übrig, Greise über 80, Kleinkinder unter fünf. Und nichts blieb übrig, alles wurde verbrannt, die Erinnerung lebt in den Köpfen, denn es gibt auch kein Grab, keine Bilder, keine Gegenstände.

Es dauerte eine Weile, bis der Junge verstand, was geschehen war, einfach so – ohne Grund, nur weil sie Juden waren. Niemand beschützte sie, ganz im Gegenteil. Es ging nicht um Kolonialismus, es ging nicht um Rassismus, es ging nicht um jüdischen Besitz oder um Territorium. Es ging nur darum, die jüdischen Lebenswelten in Europa auszulöschen.

GEISTER Juden sollten aufhören zu existieren, und die jüdische Welt Europas ist endgültig verschwunden. Ja, es gibt noch Juden und Jüdinnen, die in Europa leben, aber sie sind wie Geister, die über den Gräbern ihrer Ahnen schweben. Das und das alleine sollte eigentlich die einzige Erinnerung sein, die für Menschen mit Nazihintergrund relevant sein sollte. Nichts anderes, nur das.

Es ging nicht um Territorium oder Besitz, sondern darum, Juden auszulöschen.

80 Jahre ist es her, dass die Familie des kleinen Jungen von den Deutschen verbrannt wurde. Die Befehle dafür kamen aus Berlin und nicht vom Mond. Die Befehlsgeber und Befehlsausführer waren Deutsche und keine Rassisten oder Kolonialisten.

Nicht weit, von wo die Befehle erteilt wurden, jüdisches Leben zu vernichten, fand unlängst im Haus der Kulturen der Welt eine Konferenz statt, die sich der einzigen relevanten Erinnerung für Deutsche entledigen wollte – unter dem Namen »Hijacking Memory. Der Holocaust und die Neue Rechte«. Neue Opfer wurden dort geschaffen.

Das progressive Milieu sieht sich als Opfer der partikularen jüdischen Erinnerung. Man solidarisiert sich mit der palästinensischen Sache, 1968 lässt grüßen. Getragen wurde dies alles von deutschen Institutionen, eine von ihnen führt den Namen des Juden Albert Einstein, und eine andere Institution sollte eigentlich Antisemitismus erforschen und wendet sich von ihrem Auftrag ab. Das sind der Zeitgeist und seine Mitläufer.

BUHMANN Der sichere Hafen Israel, der Juden im Allgemeinen ihre von den Nazis geraubte Würde wiedergab, wurde für den kleinen Jungen und die anderen drei aus seiner Familie die Alternative zum Feindesland Deutschland. Aber die Nachfahren der Täter – gemeinsam mit ihren Helfern – machen dieses Land nun zum Buhmann und drehen die Opfer-Täter-Perspektive um, berauben jüdische Menschen ihrer Legitimation und fordern sie zur Selbstaufgabe auf.

Menschen mit Nazihintergrund kaperten die Erinnerung an die eigentlich einfache Tatsache, dass – wenn ihre Eltern und Großeltern die Familie des Jungen und Millionen von anderen Familien nicht ausgelöscht hätten – sich Juden gerne weiter in Europa sicher fühlen würden und nicht um ihr Überleben in Israel kämpfen müssten. Den Kindern und Enkeln der deutschen Kulturelite ist das egal. Sie wollen diese Erinnerung nicht mehr.

Palästinensische Aktivisten erkennen das und schmieden eine Einheit, die die Erinnerung in der Tat entführt und sie zeitgeistgemäß anpasst. Den palästinensischen Aktivisten ist kein Vorwurf zu machen. Es ist Krieg, da gelten andere Regeln.

MITLÄUFER Auch den jüdischen Mitläufern dieses Szenarios kann kein Vorwurf gemacht werden. Man will progressiv und nicht nationalistisch sein. Die jüdische Diaspora hatte schon immer eine ethische Anziehungskraft. Das gehört auch zu den vielfältigen jüdischen Lebenswelten, wie sie jeden Tag in Israel weltoffen vorgelebt werden.

Der Vorwurf bleibt an den Deutschen hängen, die mit der Ermordung der Familie des kleinen Jungen nichts mehr zu tun haben wollen. Eine Schande für Berlin und die drei Institutionen, die sich dafür verkauft haben.

Der Autor wurde 1954 in Mannheim geboren. Er lebt in Israel und ist Professor für Soziologie am Academic College of Tel Aviv-Yaffo.

Ergänzte Anmerkung: Unser Autor Natan Sznaider bezieht sich in diesem Text auf die Konferenz »Hijacking Memory. Der Holocaust und die Neue Rechte« vom 9. bis 12. Juni in Berlin, einer Veranstaltung des Hauses der Kulturen der Welt, des Einstein Forums und des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin.

Bei dieser Konferenz entzündete sich Kritik eines Konferenzteilnehmers, des polnisch-jüdischen Historikers Jan Grabowski, an der von ihm beobachteten Reaktion des Publikums auf einen Vortrag des palästinensischen Autors Tareq Baconi, der unter anderem das Buch »Hamas Contained« verfasst hat.

Grabowski sagte der »WELT«: »Im Zentrum Berlins saßen also, ich weiß nicht, 200 Vertreter der deutschen Intelligenzija – Intellektuelle, Studenten, Professoren, Journalisten – und applaudierten enthusiastisch, als Israel als Kindermörder, die Holocaust-Debatte als ›jüdisches Psychodrama‹ bezeichnet wurde.« Grabowksi und der polnisch-jüdische Journalist Konstanty Gebert hatten sich zuvor während der Konferenz in einem gemeinsamen Statement von Baconis Vortrag distanziert.

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