Fernsehen

»Geheimnisvoller als der Mossad«

Herr Moreh, in Ihrer Doku »Töte zuerst«, die arte und die ARD nächste Woche zeigen, sprechen sechs ehemalige Chefs des israelischen Inlandsgeheimdienstes Schin Bet offen über ihre Arbeit. Hatten Sie keine Probleme mit der Militärzensur?
Nein. Jedes Interview, das mit einem führenden Kopf des Verteidigungsapparates geführt wird, muss zwar in Israel die Zensur durchlaufen. Aber das Einzige, das dort moniert würde, wäre, wenn man Methoden preisgäbe, die immer noch zum Einsatz kommen. So will man verhindern, dass Agenten in Gefahr gebracht werden. Ich musste aus dem fertigen Film zwei kleine Sachen herausschneiden. Es ging nur um zwei Worte.

Was ist Schin Bet genau? Außerhalb Israels werden viele kaum jemals davon gehört haben.
Es ist ja auch ein Geheimdienst (lacht) und so viel geheimnisvoller als der Mossad. Es ist eine sehr verborgene Organisation, die sich vor allem mit den Palästinensern beschäftigt und ein wenig auch mit israelischen Terrorgruppen. Ich bin froh, dass wir Schin Bet haben. Sonst gäbe es viel mehr Attentate und terroristische Angriffe in Israel.

In dem Film hinterfragen Sie auch nicht Schin Bet prinzipiell, wohl aber die Moral einiger Methoden des Dienstes.
Ich glaube, die wichtigste Frage im Film ist Taktik versus Strategie. Die Methoden haben etwas mit der Taktik zu tun. Wie bekämpft man Terroristen und mit welchen Mitteln? Aber was ist die langfristige Strategie? Wohin führt dieser Konflikt? Wo wird Israel in zehn Jahren stehen? Das letzte Kapitel sagt dem Zuschauer: Das ist geschehen, das sind die verantwortlichen Leute, und diesen Preis zahlt die israelische Gesellschaft. Und keiner kann sagen, man habe ihn nicht vorher gewarnt.

Mir ist etwas aufgefallen, das bereits in der Doku über den Ex-US-Verteidigungsminister McNamara »The Fog of War« zu beobachten war: Ehemalige Hardliner scheinen so viel klüger und intelligenter zu sein, wenn sie keine Macht mehr haben.
Dieser Film von Errol Morris war auch eine Inspiration für mich. Ich habe allen sechs ehemaligen Schin-Bet-Chefs die Frage gestellt: Warum haben Sie das nicht alles gesagt, als Sie noch die Macht hatten? Sie antworteten, dass sie damals Staatsbeamte waren und gewählte Politiker nicht öffentlich kritisieren konnten. Aber intern übten sie heftige Kritik bei Besprechungen mit dem Ministerpräsidenten oder dem Verteidigungsminister. Das haben sie mir versichert, und das glaube ich ihnen auch.

Für mich war der spannendste der sechs Avraham Schalom, der von 1980 bis 1986 den Dienst leitete. Wenn man ihn heute sieht
Sie meinen, mit seinen Hosenträgern. Ja, er wirkt wie ein lieber Großvater …

Sein Gesicht sieht heute auch viel runder und herzlicher aus als auf Fotos von vor 30 Jahren. Damals ließ Schalom zwei unbewaffnete, gefangen genommene Terroristen töten. Heute kritisiert er, dass bei Bombeneinsätzen zu viele Unbeteiligte getötet werden. Wie geht das zusammen?
Es passt nicht zusammen. Das ist sein Widerspruch. Wenn man selbst eine Entscheidung fällt, ist das viel komplexer, als die Entscheidungen eines Nachfolgers zu kritisieren. Da, wo Schalom selbst nicht die Verantwortung trug, fand er die Bombe unmoralisch. Aber das sind diese Widersprüche. Die Schin-Bet-Chefs sind keine schlechten Menschen. Sie setzten sich voll und ganz aus tiefster Überzeugung für Israel ein. So haben sie auch unfassbare Dinge getan.

Wie kamen Sie eigentlich auf die Idee zu diesem Film?
Das fing mit meinem Film über Ariel Scharon an, der auch 2008 auf der Berlinale lief. Ich versuchte, zu verstehen, warum Scharon, der bis dahin als der rechteste aller israelischen Ministerpräsidenten galt, 17 Siedlungen in Gaza und Samaria räumen ließ. Sein Stabschef sagte mir, dass Scharon vor dieser Entscheidung ein Interview mit vier Chefs des Schin Bet gelesen hatte, die warnten, er treibe Israel in eine Katastrophe. Das machte auf Scharon großen Eindruck. Es kam ja nicht von der jammernden Linken, sondern aus dem Zentrum des militärischen Establishments. Ich dachte mir: Wenn Scharon sich bewegt aufgrund eines solchen Interviews, muss ich versuchen, diese Schin-Bet-Leute alle vor die Kamera zu bekommen.

Wie ist der Film in Israel vom Kinopublikum aufgenommen worden?
Wir sind im Dezember 2012 gestartet. Wir fingen mit zwei kleinen Kinos an, nach einer Woche waren es bereits sieben Kinos, und nach zwei Wochen kamen die Multiplexe hinzu, und wir spielten in 15 Sälen. Wir haben inzwischen 50.000 Zuschauer erreicht, das ist in Israel für einen Dokumentarfilm außergewöhnlich.

Gab es auch Reaktionen aus den arabischen Nachbarländern? Die sind ja schließlich von der Thematik auch unmittelbar betroffen.
Der Film wurde in der arabischen Welt nicht gezeigt. Es gibt viele Anfragen von palästinensischen Friedensaktivisten. Darum kann ich mich aber erst kümmern, wenn die ganze Aufregung mit dem Oscar und der dazugehörigen Promotiontour in den USA vorbei ist.

Könnten Sie sich vorstellen, auch einmal einen Film über sechs Führer der Hamas zu drehen?
Nein, aber das ist eine gute Frage. Alle Palästinenser, die den Film gesehen haben und auf mich zukamen, sagten immer zuerst: »Wir wünschten, jemand könnte einen ähnlichen Film in unserer Gesellschaft drehen. Das wird leider niemals passieren.« Ich schaue in meinem Film auf meine Gesellschaft, die israelische. Damit lenke ich keine Sekunde von der Verantwortung oder dem Mangel an Verantwortung der palästinensischen Führung ab. Sie ist mitverantwortlich für das Scheitern des Friedensprozesses und für die heutige Situation. Ich hoffe natürlich, dass eines Tages eine ernsthafte und wahrhafte palästinensische Führung kommen wird.

Sind Sie auch so kritisch, was die aktuelle israelische Führungsriege betrifft?
Für mich ist Netanjahu eines der größten Sicherheitsrisiken in Israel durch das, was er tut, und durch alles, was er nicht tut. Nichts ist geschehen in den letzten vier Jahren. Auch deshalb haben sich die ehemaligen Direktoren des Schin Bet nun in meinem Film so klar öffentlich geäußert.

Was kommt für Sie als Nächstes?
Ich bin dabei, für das israelische Fernsehen eine Fernsehfassung von fünf mal einer Stunde zu schneiden. Ich werde aus den Interviews auch ein Buch machen. In Deutschland wird es bei Kiepenheuer & Witsch erscheinen. Ich habe gehört, das sei ein sehr guter Verlag.

»Töte zuerst« wird am Dienstag, den 5. März, um 20.15 Uhr bei arte und am Mittwoch, den 6. März, um 22.45 Uhr in der ARD ausgestrahlt.

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