Mittelalter

Gefährliche Gerüchte

Charles Lewinsky taucht in »Der Halbbart« sehr gekonnt in die Welt des 14. Jahrhunderts ein

von Martin Oehlen  17.10.2020 19:11 Uhr

Sebi aus der Schwyz Foto: PR

Charles Lewinsky taucht in »Der Halbbart« sehr gekonnt in die Welt des 14. Jahrhunderts ein

von Martin Oehlen  17.10.2020 19:11 Uhr

Der Sebi kennt sich aus: »Wenn man einmal ins Erzählen kommt, fällt einem immer noch mehr ein, dagegen kann man nichts machen.« Das glauben wir dem jungen Helden aufs Wort.

Denn als Ich-Erzähler in Charles Lewinskys Der Halbbart serviert er uns eine Geschichte nach der anderen. Was wir da alles erfahren, fügt sich zu einer großen Erzählung zusammen. So intensiv ist das Vergnügen, dass man gegen Ende immer langsamer liest, weil so schwer zu akzeptieren ist, dass es schon bald mit diesem Erzählen vorbei sein soll. Dabei zählt das Buch stolze 680 Seiten.

Schwyz Eusebius, den alle Sebi nennen, ist 13 Jahre alt. Er lebt zu Beginn des 14. Jahrhunderts in einem kleinen Dorf in der Talschaft Schwyz, nicht weit entfernt vom mächtigen Benediktinerkloster Einsiedeln. Aus Sebis erfrischend naiver, dadurch der Welt die Schwere nehmender Perspektive wird von Entbehrungen und Gewalt, Gottesfurcht und Aberglaube, Egoismus und Nächstenliebe erzählt.

So intensiv ist das Vergnügen, dass man gegen Ende immer langsamer liest.

Mittendrin agieren viele eindrucksvolle, auch widersprüchliche Figuren. Darunter ist der Halbbart des Romantitels, dem ein Unrecht geschehen ist, das er nur zögernd preisgibt. Er ist ein lebenserfahrener und medizinisch versierter Dorfbewohner, der allerdings auf Rache sinnt. »Angst habe er in diesem Leben keine mehr übrig«, sagt er dem Sebi, »der Vorrat sei bei ihm längst aufgebraucht«. Mehr als totschlagen könne man ihn nicht – »und da sei ihm schon bedeutend Schlimmeres passiert«.

Sebi weiß, dass es bei ihm nicht reicht zum Soldaten, auch nicht zum Mönch und nur bedingt zur Feldarbeit. Aber welche Rolle soll er im Leben einnehmen? Eines Tages geht ihm ein Licht auf: Er will dem Teufels-Anneli nacheifern, das als Erzählerin umherzieht. Mit Geschichten, davon ist Sebi überzeugt, lässt sich vieles am besten beschreiben. Und dem Teufels-Anneli reicht der Lohn, um satt zu werden. Dann könnte es doch auch bei ihm klappen.

ÜBERFALL Eine unter Sebis 1001 Geschichten ragt heraus. Denn zu ihr führt vieles hin und von ihr lässt sich vieles ableiten. Darin geht es um den Überfall der Landbevölkerung auf das Kloster Einsiedeln. Auslöser ist der historisch nachweisbare Streit über die Rechtmäßigkeit von Grenzziehungen.

Darüber informiert heute die Website des Klosters: »Besonders zu erwähnen ist der sogenannte Marchenstreit mit den Landleuten von Schwyz, welcher in einem Überfall auf das Kloster und der Entführung der Mönche nach Schwyz in der Dreikönigsnacht des Jahres 1314 gipfelt.« Das Kloster beruft sich im Roman auf Urkunden, deren Echtheit ebenda angezweifelt wird.

Das Mittelalter ist in diesen Lesemomenten nur einen Wimpernschlag von der Gegenwart entfernt.

Was ist wahr und was ist falsch? Charles Lewinsky – 1946 in Zürich geboren, nicht zuletzt erfolgreich mit dem Roman Melnitz (2006) über eine jüdische Familie in der Schweiz – geht dieser Frage in vielen Varianten nach. Sebi weiß: Für wahr wird auch oft das gehalten, was nichts mit den Tatsachen zu tun hat. Das ist nicht immer harmlos. Der Halbbart, dem man ein böses Gerücht angehängt hat, muss es schmerzlich erfahren – sein halb verbranntes Gesicht ist davon ein unübersehbares Zeugnis.

HELVETISMEN Nur allzu oft wollen die Zuhörer glauben, was ihnen erzählt wird. Zumal dann, wenn ihre Sache in ein strahlendes Licht gestellt wird. Da jubeln sogar jene, die es selbst ganz anders erlebt haben. Das Mittelalter ist in diesen Lesemomenten nur einen Wimpernschlag von der Gegenwart entfernt.

Lewinsky fesselt in Der Halbbart mit Witz und Spannung, auch mit Erhellendem über eine ferne Epoche. Dezent eingestreute Helvetismen verpassen dem Roman eine kräftige Würze. Allemal wird hier die Kunst des Erzählens kritisch beleuchtet und hinreißend gewürdigt. Das ist ein Fest und eine Freude.

Charles Lewinsky: »Der Halbbart«. Diogenes, Zürich 2020, 680 S., 26 €

TV-Kritik

Sagenhaftes Unbehagen

Im ZDF diskutierten Gregor Gysi, Deborah Feldman und Manfred Lütz über Gott und die Welt - und über Israel

von Michael Thaidigsmann  29.09.2023

Zahl der Woche

800 Quadratmeter

Fun Facts und Wissenswertes

 29.09.2023

Verriss

Toxisch

Deborah Feldmans neues Buch »Judenfetisch« strotzt vor Israelhass – verwurzelt im Antizionismus der Satmarer Sekte, in der die Autorin aufwuchs

von Daniel Killy  28.09.2023 Aktualisiert

Film

Inszenatorisches Understatement

Barbara Albert hat sich an Julia Francks Bestseller »Die Mittagsfrau« gewagt. Sie schildert – teils sperrig – ein deutsch-jüdisches Schicksal

von Jonathan Guggenberger  28.09.2023

Mark Ivanir

»Den Nazis eine reinhauen«

Ein Interview mit dem Schauspieler über seine Rolle als jüdischer Gangster in der vierten Staffel von »Babylon Berlin«

von Ayala Goldmann  28.09.2023

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 28.09.2023

Tourende Legenden

Jeff Lorber: Chemiker an den Tasten

Der Pianist und Komponist bietet nun Jazz-Funk auf deutschen Bühnen

von Imanuel Marcus  27.09.2023

Berlin

Dieser Dirigent soll heute Daniel Barenboim nachfolgen

Die »Berliner Zeitung« nannte unter Berufung auf mehrere Quellen einen Namen

 27.09.2023 Aktualisiert

Aktion

»Hevenu Schalom Alechem« am Tag der Deutschen Einheit

Mit Liedern sollen Zeichen für Solidarität gesetzt werden

 26.09.2023