»Inside Out«

Für Ima

Papierknäuel, überall! Papierknäuel in leichtem Blau, in hellem Beige, in zartem Lila. Sie liegen verteilt auf dem Boden des Jüdischen Museums Berlin. Was aussieht wie das frustrierte Ende eines Schreibversuchs, ist der Anfang eines Kennenlernens.

Es sind Geschichten über Umarmungen, über Sprache, über Zuneigung, über Liebe – kurz: Geschichten, die der israelische Schriftsteller Etgar Keret über seine Mutter geschrieben hat. Über Orna Keret. Orna, die eigentlich in Anlehnung an ihren ursprünglichen Namen bei ihrer Einwanderung Zippora heißen wollte, aber eine Zippora gab es schon, erzählt Keret. Orna also. Seine Ima.

Nähe »Inside Out«, die Sicht von innen nach außen – diesen Einblick möchte Keret den Besucherinnen und Besuchern der Ausstellung geben. Nicht etwa bloße Fakten über seine Mutter liefern. Es ermöglichen, durch die Geschichten die Frau kennenzulernen, die ihn neun Monate in sich getragen hat, die ihn vor einem gewalttätigen Schulfreund geschützt hat, und zwar so, dass sich dieser nie wieder auch nur in die Nähe Kerets traute. Die Frau, die eine ganz eigene Auffassung von Benehmen, Höflichkeit und Respekt hatte, die für ihre Kinder alles tat – alles, wie Keret im Interview mit der Jüdischen Allgemeinen erzählte. Die Frau ohne eigene Kindheit.

Neun Kurzgeschichten hat Etgar Keret für die Ausstellung geschrieben.

Orna Keret wurde 1934 in Polen geboren. Ihre Kindheit war Trauma. Die Familie wurde in der Schoa ermordet. Keret war mutterseelenallein, kam über Umwege nach Israel, wo sie als junge Frau später ihren Mann Efraim traf. Eltern ohne Kindheit, die ihren Kindern so viele Geschichten wie nur möglich mit auf den Weg gaben, ihnen so viel Freiheit wie beinahe unvorstellbar ließen, um sie einfach nur Kinder sein zu lassen.

Tradition Sie war es, die, wie Etgar Keret im Begleittext zur Ausstellung schreibt, die jüdische Tradition des Weitererzählens aufrechterhalten hat. »Meine Mutter hat nicht gezögert, die Geschichte unserer Familie an mich weiterzugeben, so wie sie sich daran erinnerte, wie ein Kind – von innen nach außen: ohne Namen, ohne Daten, ein bisschen wie ein Märchen.«

Es sind Geschichten wie »Der erste Engel«, die so wehtun, dass sie vielleicht, so vermutete Keret, nie wirklich nüchtern hätten erzählt werden können. Und auch stockbetrunken wären sie nur schwer zu ertragen. Geschichten wie »Sprachen«, die, bis in den letzten Satz, eine Verbindung und ein Füreinanderdasein beschreiben, wie es nur durch die Nabelschnur gewachsen sein kann.

Und wenn aus einem Restaurant-Besuch in den 70er-Jahren aus einer kindlichen Pommes-frites-Enttäuschung ein friedliches Essen mit Reis wird, auch dann ist es Kerets Mutter, die die Situation rettet.

Wenn der Vater ein Roman ist, dann ist die Mutter eine Sammlung von Gedichten.

Dass Keret selbst zur Ausstellungseröffnung nach Berlin kommt, dafür standen die Sterne allerdings alles andere als günstig, und womöglich hätte es dann in den sozialen Medien auch keine Bilder von Geschichten sammelnden Museumsbesuchern gegeben – alle neun geglätteten Zettel in einer Hand und dann ein Selfie davon machend.

Denn fast jeder in seiner Umgebung riet ihm wegen eines schmerzenden Rückens davon ab, ins Flugzeug nach Berlin zu steigen. Selbst sein Freund aus Kindertagen stellte die Frage, die vielleicht niemand gern hören will: »Weißt du, was deine Mutter dazu sagen würde?« Aber: Keret ist nun einmal Keret – er stieg trotzdem ein.

Geschichtenautomat »Bitte nutzen Sie Ihre Chance«, steht an dem überdimensionalen Kaugummiautomaten, der eigentlich ein Geschichtenautomat mit »halb garen Geschichten über meine Mutter« ist – verpackt in kleine Kügelchen. Es kann ja schließlich nicht immer ein Roman sein.

»Nachdem mein Vater gestorben war, habe ich mein Buch Die sieben guten Jahre geschrieben«, sagt Keret. Der Vater sei wie ein Roman gewesen. Seine Mutter, überlegt der 55-Jährige, sei eher »eine Sammlung von Gedichten«. Orna Keret starb vor drei Jahren. Sie lebt in diesen bunten Blättern weiter. Und es ist wirklich schön, wenn auch bittersüß, sie kennenzulernen, selbst wenn einem das Lachen im Halse stecken bleibt.

Die Ausstellung »Inside Out – Etgar Keret« ist bis zum 5. Februar 2023
im Jüdischen Museum Berlin zu sehen. Weitere Informationen zum Begleitprogramm: www.jmberlin.de

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