Jerusalem

Für eine Schüssel Hummus

Eine Schüssel Hummus ist die offizielle Gage auch für jene Künstler, die auf Jahre ausgebucht sind und fast jedes Honorar verlangen könnten. Foto: Thinkstock, Illustration: Marco Limberg

Die Reaktion meiner deutschen Kulturszenefreunde ist verlässlich, da fast immer die gleiche. »Du fährst nach Jerusalem, um Kammermusik zu hören? Jedes Jahr? Überleg mal: der lange Flug. Und die Sicherheitskontrollen. Die Hitze. Außerdem ist Israel teuer. Hörst du in Berlin nicht genug Konzerte? Ist Tel Aviv kulturell nicht spannender als Jerusalem? Und vor allem: Pass bitte auf dich auf ...«

Meine Tel Aviver Freunde staunen aus anderen Gründen. »Es gibt so ein Festival in Jerusalem? Zehn Tage? Sogar am Schabbat? Mit Uraufführungen? Immer ausverkauft? Jerusalem, das ist doch eine kulturelle Wüste, ein anderer Planet ...«

Atmosphäre Ende vergangener Woche sitzt die Frau, die vor 19 Jahren das Internationale Kammermusikfestival in Jerusalem ins Leben gerufen hat, auf ihrer kleinen Terrasse in Mischkenot Scha’ananim unter der Montefiore-Windmühle und lächelt. Sie kennt all diese Vorurteile und Argumente, sie kennt aber vor allem Jerusalem, sein kulturhungriges Publikum und die magische Atmosphäre der sterbenden Sommer in dieser Stadt.

Elena Bashkirova ist Herz und Seele, Erfinderin und künstlerische Leiterin des Musikfestivals. Es gelingt der in Russland geborenen und seit vielen Jahren in Berlin lebenden Pianistin jedes Jahr aufs Neue, mit ihrem Charme und ihren klugen Programmen die Stars der internationalen Klassikszene in den Kuppelsaal des YMCA-Gebäudes nach Jerusalem zu locken.

Wenn Elena ruft, kommen alle. Und sie kommen immer wieder: der Pianist András Schiff und der Geiger Kolja Blacher, der Flötist Emmanuel Pahud, Star-Dirigent Daniel Barenboim oder die erste Frau bei den Berliner Philharmonikern, Madeleine Carruzzo. Sie spielen in ungewohnten Formationen, mit alten Bekannten oder neuen Freunden – und sie spielen nicht für Geld. Eine Schüssel Hummus und ein Glas Wein sind die offizielle Gage auch für jene Künstler, die auf Jahre ausgebucht sind und die fast jedes Honorar verlangen könnten.

Warum ausgerechnet Jerusalem? Warum dieses Festival ohne Gage, ohne VIP-Gäste, ohne Aftershow-Events, ohne Prominenz und ohne Spender-Partys? Liegt vielleicht gerade in dieser Bescheidenheit das Geheimnis des Erfolgs?

ymca Gegenüber des YMCA auf der Terrasse des King David Hotels sitzt András Schiff bei einem Glas Tee. Die Schatten der Altstadtgebäude werden länger, gleich beginnt der Schabbat. Der von der Queen geadelte ungarische Weltbürger fühlt, so erzählt er, etwas Mystisches in diesen Tagen. »Hier kulminiert alles. Die Geschichte, die Tradition, die Religion. Jerusalem ist die Wiege der Kultur.«

Genau das spüren die Musiker, fühlen die Zuhörer, ist András Schiff überzeugt. »Es gibt Besucher in den Konzerten, die aus Tel Aviv oder Haifa kommen, aber die Einheimischen sind die Mehrzahl, sie nehmen aktiv teil, ein so kundiges Publikum erlebe ich selten. Keiner hustet, niemand klatscht zwischen den Sätzen. Vor Elenas Festival gab es hier sehr wenig oder gar keine Kammermusik. Die Jerusalemer haben aber solch einen Hunger nach Kultur. Es geht wirklich um Musik und um nichts anderes. Für uns Musiker und für das Publikum. Deshalb sind wir fast 20 Jahre dabei.«

So lange reist auch die Geigerin Madeleine Carruzzo nach Jerusalem, um hier ihr zweitliebstes Instrument, die Bratsche, zu spielen. Sie erinnert sich an die erste Zeit im Jerusalemer Khan Theatre, es war dunkel, die Akustik schrecklich, nur 250 Leute hatten Platz, aber das Festival wuchs jedes Jahr. Immer mehr Besucher kamen, Elena Bashkirova beschloss den Umzug in die spektakuläre Architektur des YMCA.

Uraufführungen Den 1933 eingeweihten Saal zieren Messinglampen und schmale Fenster mit jüdischen, christlichen und muslimischen Elementen. Die Abende im YMCA sind lang, selten dauert ein Konzert weniger als drei Stunden, und die Programme sind immer unerwartet und ungewöhnlich. Neben Bekanntem wie dem Mendelssohn-Oktett oder Beethoventrios erklingen auch Cellosonaten von Schostakowitsch oder die Sommernachtslieder von Berlioz, kombiniert mit Uraufführungen von israelischen Komponisten wie Noam Sheriff oder Yinam Leef.

Genau dieses Unbekannte zieht viele treue Festivalbesucher an. Eine von ihnen ist die Künstlerin Orna Millo. Die in Tel Aviv geborene Malerin, Bildhauerin und Performancekünstlerin lebt und lehrt in Jerusalem. Die 65-jährige zierliche Frau schätzt, so erzählt sie, musikalisch das Unkonventionelle. Zoltán Kodálys Duo für Geige und Cello inspiriere sie ebenso wie Frédéric Chopins Sonate für Klavier und Cello, die Plamena Mangova und Edgar Moreau virtuos und gleichermaßen poetisch interpretieren. Orna Millo visualisiert Musik zu abstrakten Bildern und Bewegungen, die sie in Kursen mit ihren Studenten weiterentwickelt.

Eine ebenso langjährige Besucherin des Festivals ist Cilly Kugelmann, die Programmdirektorin des Jüdischen Museums Berlin. Kugelmann hat 2011 eine kleine Ausgabe des Jerusalemer Festivals an ihr Haus geholt, fünf Tage im April spielen jene Künstler, die auch nach Jerusalem reisen, beim »Intonations«-Festival im Lichthof des Jüdischen Museums.

Die Atmosphäre in der Heiligen Stadt sei jedoch, so Kugelmann, eine völlig andere. Das ganze Jahr warteten die Zuhörer auf dieses Ereignis, auf europäische Musik, die Bestandteil der Stadt ist und einen Kontrast zu ihrem orientalischen Rahmen bildet. Beim ersten Besuch habe sie sich wie bei einer Zeitreise gefühlt. Als säßen die Überlebenden dort und atmeten die lang vermisste Kultur ihrer Herkunftsländer ein.

Nächte »Aber es sind die Kinder und Enkel der europäischen Zuwanderer, die hier den Kern des säkularen Publikums bilden. Die äußere Form spielt dabei keine Rolle, Jeans und T-Shirt sind bei den jungen Zuhörern selbstverständlich«, erklärt Kugelmann. »Die im Vergleich zu Tel Aviv kleine Stadt Jerusalem wird für zehn Tage kulturell kosmopolitisch. Es bildet sich eine Familie aus Musikern und Zuhörern, und alle treffen sich nach dem Konzert auf der Terrasse des YMCA, um miteinander zu essen, zu trinken, Musik zu diskutieren und die Jerusalemer Nächte zu genießen.«

Der israelisch-amerikanische Bratschist Ori Kam, ehemaliger Berliner Philharmoniker und heute Solist sowie Teil des Jerusalem-Quartetts, hat mir zu Beginn meiner Jerusalemer Tage erklärt, Jerusalem sei nicht nur eine Stadt. »Es sind 200, 300 Städte, die übereinander leben und existieren. Es gibt Spannung und Entspannung zwischen diesen Ideen, Gruppen, Leuten, Grenzen, Orten, Synagogen, Kirchen, Moscheen. Die Energie zwischen all diesen Varianten macht diese Stadt so bedeutend. Und die Spannung spüren Sie, wenn Sie im Konzertsaal sitzen. Sie mischt sich mit klassischer, romantischer oder moderner Musik zu einer einzigartigen Atmosphäre.«

Das alte Europa trifft den Orient, das Vergangene trifft die musikalische Gegenwart und wird höchst lebendig. Und die Gegenwart wirkt jugendlich. Elena Bashkirova lädt alljährlich junge Ausnahmetalente ein, völlig undogmatisch, allein der Qualität verpflichtet.

höhepunkt Was jung für sie heiße? Bashkirova lächelt. Jung ist die Geigerin Baiba Skride (35), und jung geblieben sei Menahem Pressler (92). Als Novize beehrt der Pianist, Gründer des Beaux Arts Trios und seit drei Jahren Solist, dieses Jahr das Festival. Sein Auftritt ist Höhepunkt und Schlusspunkt. Der Saal ist restlos ausverkauft, einige Zuschauer und sogar Presslers Lebensgefährtin müssen auf dem Podium Platz nehmen. Dann betritt der 92-Jährige die Bühne, flankiert von den Geigern Baiba Skride und Benny Peled, dem Bratschisten Krzysztof Chorzelski und dem Cellisten Julian Steckel.

Applaus brandet auf. Der Fernsehsender arte überträgt das Konzert mit Dvoráks berühmtem Klavierquintett Nr. 2 A-Dur live und zeigt in Großaufnahme das glückliche Lächeln und die wachen Augen eines Pianisten, der längst zur Legende geworden ist. Standing Ovations beschließen den Abend – und das Festival. Elena Bashkirova ist glücklich, in Gedanken aber schon wieder im nächsten Jahr, wenn die Konzertreihe ihr 20. Jubiläum feiert. Sie wird wieder Förderer und Stifter um Unterstützung bitten, denn öffentliche Gelder lehnt sie ab. Sie hält wie ihr Mann Daniel Barenboim Distanz zur Regierung und setzt lieber auf private Initiativen. Sie wird renommierte Künstler einladen und ein noch glanzvolleres Jubiläumsprogramm entwerfen.

Mein Mann und ich sind nächstes Jahr auch wieder dabei; 2016 konnten wir schon zwei Berliner Freunde überzeugen, für 2017 haben bereits vier zugesagt. Ob es nicht Eskapismus sei, in einer Stadt mit derartig manifesten Konflikten Kammermusik zu genießen, fragt mich eine Skeptikerin.

Darf man in einer Stadt, die mit ihren Konflikten die Weltnachrichten beschäftigt, wirklich zehn Tage komplett in die schöne Schwerelosigkeit der Kammermusik abtauchen? Der Widerspruch ist nur ein scheinbarer. Er passt zum Faszinosum der Stadt Jerusalem – und er ist ein Teil ihres Zaubers.

Die Autorin ist ARD-Kulturkorrespondentin für Berlin beim Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB).

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