Holocaust

»Falls keiner von uns überlebt«

Drei Institutionen arbeiten an einer Edition der »Tagebuch«-Sammlung Emanuel Ringelblums aus Warschau

von Katrin Diehl  09.04.2023 19:33 Uhr

Emanuel Ringelblum (1900–1944) Foto: picture-alliance / dpa

Drei Institutionen arbeiten an einer Edition der »Tagebuch«-Sammlung Emanuel Ringelblums aus Warschau

von Katrin Diehl  09.04.2023 19:33 Uhr

Das Tagebuch ist kein Tagebuch, sondern eine Sammlung von Zetteln, beschriebenen Papierbögen, mal mit Datierung, mal ohne, mal gut lesbar, mal unlesbar, verblasst, hier und da zerstört, größtenteils auf Jiddisch verfasst, aber es gibt auch ein paar wenige Passagen auf Polnisch. Und was da insgesamt zu lesen steht, ist stark berührend, von bedrückender Authentizität wie von aufklärender Informationsfülle, das jüdische Leben in Warschau unter nationalsozialistischer Besatzung betreffend – auch, und vor allem, jenes im Warschauer Ghetto.

Autor des Konglomerats ist der Historiker Emanuel Ringelblum (1900–1944), der sehr zielgerichtet-motiviert für eine Zeit nach der Katastrophe, nach dem eigenen wie dem Tod der Männer, Frauen, Kinder um ihn herum, ein Bild dieses unmenschlichen Alltags hinterlassen wollte und hinterließ. »Falls keiner von uns überlebt, soll wenigstens das bleiben«, schreibt er Anfang 1944, wenige Wochen, bevor er zusammen mit seiner Frau und dem kleinen Sohn erschossen wurde.

MILCHKANNE Ringelblum gilt als Initiator des »Oneg Shabbat«, des Untergrundarchivs des Warschauer Ghettos, für das ein Kreis von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen um ihn herum Aufzeichnungen und Umfragen machte, Dinge sammelte. Um diese zeugnisgebende Sammlung ist – so kann man das vielleicht sagen – 1947 das Jüdische Historische Institut in Warschau herumgebaut worden, mit einem Museumstrakt, in dem eine dieser metallenen Milchkannen, die unter der Erde des Ghettos vergraben als Behältnis der Zeugnisse überdauert hat, eindrücklich arrangiert steht.

Im Jüdischen Historischen Institut liegt auch der größte Teil des Originals von Ringelblums Tagebuch (ein viel kleinerer liegt im YIVO Institute for Jewish Research in New York).

Mit dem Warschauer Institut als Kooperationspartner sind drei Institutionen damit beschäftigt, Ringelblums Tagesaufzeichnungen in einer ersten deutschsprachigen Edition herauszubringen: die Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Justus-Liebig-Universität Gießen, dort der Literaturwissenschaftler Sascha Feuchert; das Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main mit dem Historiker Markus Roth; und das Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München mit der Historikerin und stellvertretenden Leiterin Andrea Löw.

»Wir feilen zusammen an jedem Satz«, berichtet Andrea Löw, »meistens über Zoom, und orientieren uns dabei an der deutschen Übersetzung aus dem Jiddischen, aber auch sehr an der Übertragung ins Polnische, denn die polnischen Kollegen haben da wunderbare Vorarbeit geleistet, schon sortiert und datiert, was nicht so einfach ist.«

BÄNDE Auf Polnisch ist die Gesamtausgabe aller Zeugnisse des Untergrundarchivs »Oneg Shabbat« bereits abgeschlossen, auf Englisch noch in Arbeit. »Das können und wollen wir nicht leisten«, sagt Löw, »wir denken so an vier Bände, gut lesbar, für viele zugänglich, eine Auswahl-Edition also, die vieles offenlegt, und da sollen Ringelblums Tagebuchaufzeichnungen jetzt den Anfang machen.«

Die ersten Notizen Ringelblums stammen aus den Jahren 1939/40. »Die sind sehr hektisch notiert, überrascht von dem, was da vor sich geht«, sagt Andrea Löw. »Später werden sie ruhiger, Zusammenhänge werden klarer dargestellt, man spürt die wissenschaftliche Motivation.« 1942 erstellte Ringelblum eine Liste an Namen von den Menschen, die »noch leben«, und denen, die bereits umgekommen waren. Das wirke über alle Tage hinaus konsternierend.

»Ringelblum war sehr um Sachlichkeit bemüht und in seiner Methodik unglaublich modern, seiner Zeit voraus, er schloss Genderfragen mit ein, beachtete die Frage der eigenen Betroffenheit.«

Das Ringelblum-Tagebuch hält Andrea Löw für eine der eindrücklichsten Quellen zur Schoa, »wichtig für jedes Reden über den Holocaust, wichtig für die Zeit ohne Zeitzeugen«. 2024 könnte es – etwa 350 Seiten stark – allen in deutscher Sprache zugänglich sein.

Literatur

Leichtfüßiges von der Insel

Francesca Segals Tierärztin auf »Tuga«

von Frank Keil  21.10.2024

Berlin

Jüdisches Museum zeigt Oppenheimers »Weintraubs Syncopators«

Es ist ein Gemälde der Musiker der in der Weimarer Republik berühmten Jazzband gleichen Namens

 21.10.2024

Europa-Tournee

Lenny Kravitz gibt fünf Konzerte in Deutschland

Der Vorverkauf beginnt am Mittwoch, den 22. Oktober

 21.10.2024

Geistesgeschichte

Entwurzelte Denker

Steven Aschheim zeigt, wie deutsch-jüdische Intellektuelle den Herausforderungen des 20. Jahrhunderts begegneten

von Jakob Hessing  21.10.2024

Heideroman

Wie ein Märchen von Wölfen, Hexe und Großmutter

Markus Thielemann erzählt von den Sorgen und Ängsten eines jungen Schäfers in der norddeutschen Provinz

von Tobias Kühn  21.10.2024

Nachruf

Mentor und Mentsch

Hannah M. Lessing erinnert sich an den verstorbenen israelischen Holocaust-Forscher Yehuda Bauer

von Hannah M. Lessing  21.10.2024

Sam Sax

Apokalyptisch in New York

Der queere Coming-of-Age-Roman »Yr Dead« beschreibt eine Selbstverbrennung

von Katrin Diehl  20.10.2024

Tatort

Alte Kriegsverbrechen und neue Zivilcourage

Im neuen Murot-»Tatort« findet ein Kriminalfall im Zweiten Weltkrieg in die Gegenwart. Und Hauptdarsteller Ulrich Tukur treibt doppeltes Spiel

von Andrea Löbbecke  20.10.2024

Buchmesse

Friedenspreis des deutschen Buchhandels für Anne Applebaum

Als die Historikerin Anne Applebaum in Frankfurt mit dem Buchhandels-Friedenspreis geehrt wurde, richtete sie einen dramatischen Appell an die Welt

von Christiane Laudage, Christoph Arens, Volker Hasenauer  20.10.2024