Hermann Cohen

Ethiker des Mitleids

Nicht Martin Buber oder Franz Rosenzweig, sondern der Sohn eines Kantors aus Coswig war der Begründer der Dialogphilosophie

von Micha Brumlik  09.05.2021 18:33 Uhr

Fragte nach dem Sinn des Leidens: der jüdische Philosoph und Sozialdemokrat Hermann Cohen (1842–1918) Foto: ullstein bild - ullstein bild

Nicht Martin Buber oder Franz Rosenzweig, sondern der Sohn eines Kantors aus Coswig war der Begründer der Dialogphilosophie

von Micha Brumlik  09.05.2021 18:33 Uhr

Hermann Cohen war einer der ganz wenigen Juden, die – ohne sich der Taufe unterzogen zu haben – vor 1919 deutsche Professoren werden konnten. Er wurde 1842 als Sohn eines orthodoxen Synagogenkantors in Coswig geboren und besuchte das jüdisch-theologische Seminar in Breslau, um 1865 in Halle mit einer erkenntniskritischen Arbeit promoviert zu werden. 1873 habilitierte er sich im neukantianisch geprägten Marburg im Fach Philosophie, um drei Jahre später den Lehrstuhl des Neukantianers Albert Lange zu übernehmen.

Nach seiner Emeritierung zog Cohen nach Berlin, wo er ab 1912 an der »Hochschule für die Wissenschaft des Judentums« lehrte. In dieser Zeit entstand sein religionsphilosophisches, postum veröffentlichtes Hauptwerk Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Cohen starb im April 1918, seine ihn überlebende Witwe Martha – die Tochter des Komponisten Louis Lewandowski – wurde am 1. September 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo sie auch starb.

emanzipation Hermann Cohen war Zeuge der glücklichsten Zeit des modernen deutschen Judentums, einer Zeit, die mit der staatsbürgerlichen Emanzipation der jüdischen Männer nach Bismarcks Reichsgründung 1871 begann und von der Hoffnung getragen war, dass Emanzipation und Fortschritt des deutschen Judentums, dem wachsendem Antisemitismus zum Trotz, weitergehen würden.

In den letzten Jahren seines Lebens wurde Cohen als Mentor Franz Rosenzweigs noch Zeuge des Entstehens einer dialogisch geprägten Existenzphilosophie, die vor allem eine jüngere Generation gegen den vermeintlich akademisch erstarrten Neukantianismus ins Feld führte.

Hermann Cohens Hauptwerk war die »Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums.«

Indes: Anders als immer wieder kolportiert, waren nicht Rosenzweig und Buber die Begründer der Dialogphilosophie, sondern eben Hermann Cohen. Zudem liegen Hinweise vor, dass auch Leo Baeck in dieser Zeit den Gedanken des »Mitmenschen« als Kern jüdischen Denkens fasste.

Cohen jedenfalls entfaltete diesen Gedanken in seinem Hauptwerk, der Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, in dem es um eine Begründung der Ethik aus der Mitmenschlichkeit geht: Sei doch Thema aller Ethik, das Ich des Menschen seiner eingeschränkten Individualität zu entreißen, um es ihm in geläuterter Form zurückzuerstatten. Das Ich, von dem die Ethik spreche, sei das Ich der Menschheit: Auch als Individuum »kann er nur Träger der Menschheit sein«.

INTERSUBJEKTIVITÄT Damit ist die Religionsphilosophie Hermann Cohens, wie sie in Religion der Vernunft entfaltet wird, in letzter Instanz intersubjektive Ethik. Das Ich, von dem die Ethik spricht, sei das Ich der Menschheit, in der überhaupt erst ein nicht von partikularen Interessen befangener Blick auf den Menschen möglich wird.

Das erschließt sich Cohen an einem Phänomen, von dem aus das Wesen einer wahren, einer teilnehmenden Intersubjektivität überhaupt erst verständlich wird: dem Mitleid, dem Mit-Leid. Erst die Aufnahme des Mitleids in die philosophische Argumentation scheidet Metaphysik von Ethik. Werde nämlich die unbezweifelbare Erfahrung des Leidens nur metaphysisch und nicht im Hinblick auf das Mit-Leid verstanden, so führe sie in weltverneinenden Pessimismus.

Damit grenzt sich Cohen von Schopenhauer ab, dem es auch um den Sinn des menschlichen Leidens ging. Das zentrale Problem besteht mithin darin, wie der Sinn des menschlichen Lebens gegen die Erfahrung nicht weiter einsichtigen Leidens verteidigt werden kann.

Diese Aufgabe löst die Religion, deren moralischer Gehalt in beispielhaftem Sinn in der Hebräischen Bibel, zumal den prophetischen Schriften, vorliegt. In ihnen findet Cohen beispielhafte Formen der »Volksgenossenschaft« (nicht mit der NS-Volksgemeinschaft zu verwechseln, M.B.), der Gastfreundschaft, der Fremdengesetzgebung im Bunde Gottes nicht nur mit Israel, sondern mit allen Menschen.

Es ist vor allem die prophetische Predigt mit ihrer Ausrichtung auf irdische Gerechtigkeit, in der der Begriff des »Mitmenschen« zum ersten Mal zur Entfaltung kommt. Damit will der Kantianer Cohen zeigen, dass die Religion die Forderungen der praktischen Vernunft nicht nur anschaulich illustriert, sondern sie über die Erfahrung von Leid, Mitleid und Mitmenschlichkeit, wie sie in der Hebräischen Bibel entfaltet sind, allererst begründet.

KANT-KRITIK Dabei ist nicht zu übersehen, dass Cohen Kants Fehleinschätzung des Judentums als »statutarischer Religion« in dessen Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft kritisiert: »Neben dem Ich erhebt sich, und zwar im Unterschied zum Es, der Er: Ist er nur das andere Beispiel vom Ich, dessen Gedanke daher durch das Ich schon mitgesetzt wäre? Die Sprache schon schützt vor diesem Irrtum: Sie setzt vor den Er das Du. Ist auch das Du nur ein anderes Beispiel für das Ich und bedürfte es nicht einer eigenen Entdeckung des Du, auch wenn ich bereits meines Ich gewahr geworden bin?« Vielleicht, so fragt Cohen vorsichtig, »verhält es sich umgekehrt, dass erst das Du, die Entdeckung des Du mich selbst auch zum Bewußtsein meines Ich, zur sittlichen Erkenntnis meines Ich zu bringen vermöchte.«

Cohen nimmt an, dass Gott nur in Korrelation mit dem Menschen gedacht werden kann.

In diesen Sätzen Cohens – und nicht Rosenzweigs oder Bubers – ist die radikale Alterität des anderen philosophiegeschichtlich erstmals ausgesprochen. Eine derart intersubjektiv konstituierte Menschheit, so Cohen, ist zugleich eine auf sittlicher Basis konstituierte Menschheit. Diese Behauptung trägt in der Gegenwart die Intersubjektivitätsphilosophie von Levinas bis Habermas und Apel seit Längerem vor.

Den zwingenden Nachweis zu führen, dass aus Intersubjektivität Moralität resultiere, ist diesen Ansätzen gleichwohl nicht immer gelungen. Cohen schrieb die Lösung dieser Aufgabe der Religion zu, der damit eine eigene, von der Ethik und ihren immanenten Vernunftgesetzlichkeiten unterschiedene Funktion zugeschrieben wird: Nur und ausschließlich an und in der Religion wird verständlich, warum Intersubjektivität notwendig ein sittliches Phänomen ist.

Zur Klärung dieses Phänomens wendet sich Cohen vor Buber und Rosenzweig der Ich-Du-Thematik zu, um die Frage zu behandeln, inwiefern sich die »Ich-Er«-Beziehung von der »Ich-Du«-Beziehung unterscheidet. Infrage steht jetzt, ob nicht durch die Beobachtung des Leidens des anderen dieser andere sich aus einem Er in ein Du verwandele. Die Bejahung dieser Frage gebe der Religion ihr Recht, womit gezeigt wäre, dass vernunftgemäße Religion und vernunftgemäß begriffene Intersubjektivität letztlich identisch sind.

MICHA Eine den Grundgedanken der Ethik enthaltende Religion wird somit stets vom Mit-Menschen her und auf den Mit-Menschen hin denken; ihre erste präg­nante Ausformulierung findet sie in den Schriften der Propheten, namentlich beim Propheten Micha. Dessen in 6,8 bekundete Äußerung, Cohen übersetzt sie mit »Er hat dir verkündet, o Mensch, was gut sei«, deutet er so: »Hier sind die drei Begriffe vereinigt. Der Mensch ist aufgetreten, an die Stelle des Israeliten getreten. Und Gott hat ihn berufen, um ihm Kunde zu geben – wovon? Etwa von sich? Oder vom Menschen? Von beiden nicht. Die Kunde bezieht sich auf etwas ganz anderes, auf einen neuen Begriff mit dem Schwergewicht der Abstraktion: das Gute.«

Inhalt und Konsequenz einer der biblischen Religion entstammenden Ethik ist es, das Ich des Menschen seiner eingeschränkten Individualität zu entreißen, um es ihm in geläuterter Form zurückzuerstatten. Das Ich, von dem die Ethik spricht, ist das Ich der Menschheit, in der überhaupt erst ein – nicht von Interessen befangener – Blick auf den einzelnen, den wirklichen Menschen möglich wird.

Eine den Grundgedanken der Ethik enthaltende Religion findet ihre erste präg­nante Ausformulierung in den Schriften der Propheten.

Oder wie Cohen schreibt: »Im Leiden geht mir plötzlich und unaufhaltsam ein grelles Licht auf über die Flecken an der Sonne des Lebens. Möchte die Einsicht über den Grund des Leidens mir immerdar verborgen bleiben: es ist gar kein theoretisches Interesse, welches durch diese Beobachtung in mir erregt wird.«

sinn Und weiter: »Es ist der ganze Sinn der Ethik, als der Lehre vom Menschen und vom Menschenwerte, an dem ich verzweifeln muss, wenn dieser Menschenwert sich vorzugsweise im Leiden ausmünzt. Der Sinn der Menschheit wird mir hinfällig, geschweige, dass ich überhaupt noch ein Interesse an meiner Selbstexistenz nehmen könnte.«

Doch führt nicht nur die Religion zur Ethik, sondern auch die Ethik zu Gott. Dies resultiert aus Cohens radikaler Annahme, dass Gott nur in Korrelation mit den Menschen gedacht werden kann, der Gedanke eines selbstgenügsamen Gottes also seinem Begriff widerspricht. Gott ist vernünftig überhaupt nur als in Korrelation mit den Menschen stehend zu denken. Demnach entspringen der religiösen Besinnung zwei Begriffe des Menschen als Vernunftwesen: der Mensch als Ich und der Mensch als Mitmensch.

Angesichts der Korrelation von Gott und Mensch entsprechen dem zwei Begriffe Gottes: des Gottes der sozialen Liebe und des Gottes der Sündenvergebung. Cohen begründet die nur durch die biblische Religion mögliche Mitmenschlichkeit, die er als Bedingung der Möglichkeit jeglicher Ethik ansieht, durch die wechselseitige Verwiesenheit von Religion und Sittlichkeit. Ein Blick auf die Welt, der nur »Nebenmenschen«, aber keine »Mit-Menschen« kennte, könne zwar eine Soziologie ermöglichen, aber keine Religion.

ARMUT Der prophetischen Predigt wider die Armut entnimmt Cohen, dass das Leiden in erster Linie ein unverschuldeter, subjektive Missempfindungen übersteigender Umstand ist, der nicht im Sinne individueller Schuld zugerechnet werden darf. Das Leiden ist ein Gefühl, das nicht nur eine soziale Tatsache – die der Armut – widerspiegelt. Cohens Überzeugung gemäß ist die Theodizeefrage die Frage nach dem höheren, dem objektiven Sinn von Leid und Schmerz im individuellen Leben, überhaupt nicht sinnvoll zu beantworten – mit Ausnahme der Einsicht, dass Leiden Mitleid und somit Intersubjektivität ermöglicht.

Es ist die Armut, die Erfahrung, dass andere ohne für sie nachvollziehbaren Sinn leiden, die sie von »Nebenmenschen« zu »Mitmenschen« werden lässt. Und da ein gehaltvoller Begriff des Menschen gar nicht anders denn als »Mitmensch« gedacht werden kann, wird der von den Propheten beschworene Arme zum Typus des Menschen überhaupt. Des Armen ansichtig zu werden, motiviert eine religiöse Erfahrung: »im Mitleid gleichsam den Menschen erfinden, den Mitmenschen und den Menschen«.

Tatsächlich war es dem bekennenden Juden und überzeugten Ethiker mit dieser Überzeugung auch politisch ernst – schrieb er doch in seiner 1904 veröffentlichten Schrift Ethik des reinen Willens, dass die Politik der Propheten nichts anderes gewesen sei, »als was wir heute Sozialismus nennen«.

Der Autor ist Erziehungswissenschaftler und Publizist. Über Hermann Cohen sprach er vor Kurzem bei einer Online-Veranstaltung der Berliner Synagoge Pestalozzistraße #PestalozziDigital.

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