Meinung

Lesen öffnet Welten

Schriftstellerin Dana Vowinckel Foto: Gregor Matthias Zielke

Meinung

Lesen öffnet Welten

Für unsere Autorin geht Leben nicht ohne Literatur. Ein Plädoyer für das Buch

von Dana Vowinckel  27.04.2023 09:15 Uhr

Es ist Leipziger Buchmesse. Ich war noch nie auf einer Buchmesse, aber ich mag Bücher, soll also einen Text schreiben über das Lesen, ich soll den Text schreiben in meiner Funktion als »Autorin«, aber klar, ich bin jüdische Autorin, und deswegen beginnt dieser Text an Chanukka, um meinen Esstisch sicher zehn Gäste, mehr Nichtjuden als Juden, aber die Nichtjuden lieben ja Chanukka, aber darum soll’s in diesem Text nicht gehen. Nein, es soll darum gehen, dass irgendwo zwischen Latkes und Crémant kurz eine Stille entstand und ich etwas in die Stille warf, weil ich Stille kaum ertrage: Was denkt ihr, ist es besser, gar nicht zu lesen oder einfach irgendetwas zu lesen?, und dann war die Stille weg, und es wurde hübsch gestritten.

Ich frage mich das schon länger, genauer gesagt seit einer Grippe, die so schwer war, dass ich wochenlang nur Hauptsätze verstand. Also wühlte ich in der Männer-Ecke des Bücherregals, der Ecke, in der steht, was mein Freund mit 19 gelesen hat, Popkultur-Drogen-Sex-Zeug, zog einen »Klassiker« heraus und las: ein misogynes, rassistisches Buch, das dafür gefeiert wurde, dass es so »ehrlich« ist. Wenn das Ehrlichkeit ist, dachte ich, würde ich mich lieber anlügen lassen.

fernsehen Als ich wieder klar denken konnte, fing ich an, mich zu fragen, ob ich das Buch lieber nicht gelesen hätte. Vielleicht hätte ich stattdessen lieber fernsehen sollen? Wäre das am Ende besser für den Kopf gewesen? Nur weil etwas auf Seiten gedruckt wurde, heißt es ja nicht, dass es gehaltvoller oder besser ist.

Andererseits habe ich ja eine Meinung, eine Haltung zum Buch entwickelt, zählt das nicht auch als Bildung? Muss man immer zur Bildung lesen? Ist Unterhaltungs-Lesen auch besser, als nicht zu lesen? Warum, wenn nicht zur Bildung? Vielleicht ist es, um die Perspektive zu wechseln? Jeder Roman setzt doch voraus, dass man sich darauf einlässt, die Welt durch andere Augen zu betrachten.

Das sagt auch meine Lektorin, als ich sie frage. Unbedingt, die Hauptsache ist Lesen, ganz klar! Spannend. Eine Person, die regelmäßig Literatur »einkauft«, ständig nach dem noch Besseren sucht, die ich dabei für unfassbar klug und genau halte, findet egal, was, das Wichtigste ist, dass man liest.

Aber trotzdem: Im Falle meiner Grippe-Lektüre – wäre es nicht besser gewesen, die Perspektive nicht gewechselt zu haben? Will ich wissen, wie es ist, ein bösartiger Schnösel zu sein?

Ist es besser, gar nicht zu lesen oder einfach irgendetwas zu lesen?

Ich gehe weiter auf Fragetour. M., Soziologe, sagt: Es gebe Studien, dass Lesen besser sei als Fernsehen. Er sagt also, was ich dachte: Am Ende geht es doch allen um den Kontrast zur passiven Unterhaltung, in der man sich nichts ausmalen muss, sich nicht anstrengen muss. Ich google das.

eltern-shaming Die Studien, die ich finde, sehen alle dubios aus und klingen vor allem nach Eltern-Shaming: Wenn ihr eure Kinder zu viel fernsehen lasst, werden sie dumm. Wenn ihr euren Kindern vorlest, werden sie schlau. Das klingt nach erhobenen deutschen Zeigefingern. Irgendwie scheint mir das kulturpessimistisch und klassistisch, dieses Geschimpfe gegen Trash-TV und viereckige Augen.

So richtig komme ich nicht weiter. Ich brenne doch für nichts so sehr wie für gute Literatur. Aber darüber, was gute Literatur sein soll, wird seit Jahrzehnten gestritten. Nur, was schlechte Literatur ist, darüber sind sich alle einig. Schlechte Literatur ist simpel, heischend, bestenfalls ein »guilty pleasure«, das man heimlich unter der Bettdecke tut. Ich glaube nicht an guilty pleasures, ich glaube nur an plea­sures. Ich schäme mich auch nicht, wenn ich Kuchen esse oder Taylor Swift höre. Aber trotzdem, irgendetwas in mir ruft so laut: Es macht doch trotzdem einen Unterschied, ob ich Baldwin lese oder Fitzek!

Ich bin ratlos. Zählt nun, was in den Büchern steht, oder nur, dass es Bücher sind, Papier, Schrift drauf, Anfang und Ende? Und was ist mit politischen Kriterien, ist Unterhaltungsliteratur nicht voller Sexismus und Rassismus? Na gut, das ist die Literatur von Uwe Tellkamp auch, davor schützt vermeintliche Intellektualität nicht. Und es gibt ein ganzes Genre von Queer-Romance-Literatur, die wahrscheinlich nuancierter ist als die immer gleiche Literatur des Bildungsbürgertums. Also vielleicht doch: Hauptsache, lesen? Bin ich nicht erfüllter, ganzer, wenn ich lese?

unterhaltung Zurück zum Chanukka-Gespräch. Am Ende waren sich alle einig, dass Lesen die Hauptsache ist. Um das Gespräch zu rekonstruieren, rufe ich R. an. Er sagt: Ist ja ein großes Glück, dass es auch das Unterhaltungssegment gibt, denn sonst hätte Susan Sontag ja niemals Notes on »Camp« geschrieben. Ich denke: Stimmt, aber Unterhaltung ist ja nicht dafür da, dass wir in unserem dummen Elfenbeinturm darüber sinnieren, wer schon kluge Dinge über Unterhaltung gesagt hat. Unterhaltung darf doch auch einfach unterhalten. Und dann bin ich wieder am Anfang.

Das Einzige, worin ich mir sicher bin, ist: Für mich geht Leben nicht ohne Lesen. Es lässt mich meinem sturen, engen Kopf entfliehen wie nichts anderes. Es öffnet Welten, ist Herausforderung und Belohnung zugleich. Aber ich finde auch, dass Erfrischungsstäbchen eine Delikatesse sind, also sollte man mich vielleicht einfach gar nicht nach meiner Meinung fragen.

Die Autorin ist Schriftstellerin. Im Herbst erscheint bei Suhrkamp ihr Roman »Gewässer im Ziplock«. Im vergangenen Jahr gewann sie den Schreibwettbewerb »L’Chaim: Schreib zum jüdischen Leben in Deutschland!«.

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