Autobiografie

Erinnern und Erforschen

Léon Poliakovs erstmals auf Deutsch vorliegende »Memoiren eines Davongekommenen« sind ein historischer Schatz

von Tobias Prüwer  19.10.2019 19:25 Uhr

Historiker und Holocaust-Forscher Léon Poliakov Foto: imago/Leemage

Léon Poliakovs erstmals auf Deutsch vorliegende »Memoiren eines Davongekommenen« sind ein historischer Schatz

von Tobias Prüwer  19.10.2019 19:25 Uhr

Erinnern und Erforschen, das waren die zwei Motoren im Leben von Léon Poliakov. Dass der Nationalsozialismus und alle in dessen Namen verübte Verbrechen nicht vergessen werden, war ein Lebensziel von ihm, der sich »ein Davongekommener« nannte. Und zugleich wollte der autodidaktische Historiker verstehen, »warum man mich umbringen wollte, mich und Millionen andere unschuldige Menschen«.

Diesem Antrieb hat es die Welt zu verdanken, dass Léon Poliakov einer der Ersten war, die systematisch Dokumente zur Schoa sammelten und die systematische Menschenvernichtung dokumentierten. Seine Studie Bréviaire de la haine (Die Saat des Hasses) aus dem Jahr 1951 war eine Pionierarbeit und zeitgeschichtliche Avantgarde. Nun liegen die Memoiren des russisch-französischen Historikers endlich in deutscher Übersetzung vor.

Als »abenteuerlich« müsste man dieses Leben beschreiben, wäre das Etikett für Autobiografien nicht längst schon verbraucht. Aber allein die Eckdaten mögen einen Eindruck von den Wechselfällen in Poliakovs Leben vermitteln bis hin zu jenen Jahren, in denen er permanent in Todesgefahr schwebte.

RÉSISTANCE Geboren wird er 1910 als Sohn eines jüdischen Verlegers in St. Petersburg. Die Oktoberrevolution treibt die Familie in die Flucht. Über Deutschland und Italien erreicht sie Paris. Poliakov studiert Jura und Literaturwissenschaft, beginnt, als Journalist zu arbeiten. Er kämpft im Zweiten Weltkrieg für Frankreich, kann aus deutscher Kriegsgefangenschaft entfliehen und schließt sich der Résistance an. Mehrere Jahre kämpft er gegen die deutsche Besatzung und arbeitet in einer Gruppe daran, Juden zu verstecken und sie mit falschen Papieren in Sicherheit zu bringen. Er überlebt Besatzung und Vichy-Regime.

Nach dem Krieg beginnt er sofort mit der Dokumentation und Auseinandersetzung mit dem Selbsterlebten und Berichteten. Schoa und jüdische Geschichte, Antisemitismus und Rassismus sollten zu den Lebensthemen des Doktors der Philosophie werden, der zuletzt an der Sorbonne in Paris lehrte. Poliakov verstarb 1997 in Orsay.

Poliakov war einer der ersten, die systematisch Dokumente zur Schoa sammelten.

Dass seine Memoiren nun auf Deutsch zu lesen sind, verdankt sich der Edition Tiamat. Dabei konzentrieren sich die Beschreibungen im Wesentlichen auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs und die frühen Nachkriegsjahre, in denen die ersten wichtigen Arbeiten Poliakovs entstanden. Diesen Kerntext schrieb er bereits Ende der 40er-Jahre. Auf Verlegeranraten kamen dann Beschreibungen aus der Jugend und den späteren Lebensjahren hinzu.

ÜBERLEBEN In der Herzkammer des Buches schildert Poliakov jene Zeit, die er »großes Leid« nennt. Sie beginnt mit der Massenverhaftung von 13.000 Juden durch das Vichy-Regime im Sommer 1942. Poliakov gerät in eine Gruppe von Menschen, die ihnen helfen will und Juden versteckt. Hier wird insbesondere die Region Le Chambon-sur-Lignon wichtig, in der das sogenannte »protestantische Plateau« liegt. Die Menschen in den dortigen Dörfern sind fest im Glauben und autoritätsskeptisch – und sind besonders hilfsbereit beim Verstecken vor den Häschern. Tausende Juden überlebten durch diese Hilfe – Poliakovs Bericht davon ist die einzige deutschsprachige Beschreibung dieser Ereignisse.

Allmählich entwickelt sich der Beschreibende, der immer nah am Geschehen ist, zum Historiker. Er sammelt Dokumente, hat die Möglichkeit, ein Naziarchiv zu sichten, dessen Akten dann in den Nürnberger Prozessen die Anklage unterstützen. Neben der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und den treibenden Motiven hinter dem Antisemitismus wird für Poliakov die tiefe Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte immer wichtiger. Diese macht aus ihm zwar keinen Gläubigen, vermittelt ihm jedoch ein intellektuelles Judentum.

Forsch und flott sind diese Reflexionen aus einem beschädigten Leben sprachlich gehalten. Der reiche, wenn auch bittere Erfahrungsschatz bewegt. Manchmal sprunghaft und mit der Aufzählung vieler Namen ist es als Leser teilweise mühsam zu folgen. Aber gerade solche Aufzählungen werten diesen historischen Schatz auf, machen ihn so reich. Und der immer wieder hervorspringende Witz und, ja, einfach der Wille zum Leben lohnen die Lektüre über das rein Historische hinaus.

Léon Poliakov: »St. Petersburg – Berlin – Paris. Memoiren eines Davongekommenen«. Deutsch von Alexander Carstiuc, Jonas Empen und Jasper Stabenow. Edition Tiamat, Berlin 2019, 288 S., 24 €

Glosse

Israel-Boykott für Anfänger: Wie Sie jetzt zum mündigen BDS-Aktivisten werden

Liebe Antisemiten, Euer Traum wird endlich wahr!

von Michael Thaidigsmann  18.03.2024

Geschichte

Die Schoa in Spielfilmen und die Frage »Darf das so?«

Aktuell der oscarprämierte Auschwitz-Film »The Zone of Interest«, vor 25 Jahren die oscarprämierte KZ-Tragikomödie »Das Leben ist schön«: Die Debatte über Filmkunst zum NS-Terror hat eine Geschichte

von Gregor Tholl  18.03.2024

Geheimisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 17.03.2024

Studie

Antisemitische Tendenzen bei fast jedem fünften Studenten

Zwölf Prozent meinen, die Attacke vom 7. Oktober sei »Teil des legitimen Befreiungskampfes« gewesen

 15.03.2024 Aktualisiert

Josef Joffe

»Ideen statt Identitäten«

Der Journalist, Transatlantiker und langjährige »ZEIT«-Herausgeber wird 80 – eine Würdigung

von Helmut Kuhn  15.03.2024

Judenhass

Zentralrat macht sich für »klare Richtlinien« gegen Antisemitismus in der Kultur stark

Josef Schuster: Eigenverantwortung ist in weiten Teilen gescheitert

 14.03.2024

Film

Kafka stirbt ein zweites Mal

»Die Herrlichkeit des Lebens« verfremdet die literarischen Texte des Autors zu biografischen – und schwächelt genau deshalb

von Jonathan Guggenberger  14.03.2024

Restitution

Schiedsverfahren zur Rückgabe von NS-Raubkunst geplant

Beratende Kommission war 2003 eingerichtet worden, um bei Differenzen zu vermitteln

 13.03.2024

»Jüdische Ossis«

Blick zurück nach vorn

Das Festival beschäftigt sich mit den letzten Jahren der DDR – und was davon übrig blieb

 13.03.2024 Aktualisiert