Umfrage

Eine prekäre Lage

Lena Gorelik, Schriftstellerin
Manchmal werde ich bei Lesungen gefragt, ob man davon lebe, von diesem Schreiben. Wenn man sich auf Unsicherheit einlässt, dann schon, antworte ich. Von der Hand in den Mund, lernt man schnell, und manchmal reicht die Hand nicht schnell genug nach, und kurz vor der monatlichen Abbuchung der Miete der ängstliche Blick aufs Konto: Wird es ausgehen? Man gewöhnt sich daran, weil man lernt, sich darauf zu verlassen, dass auch wieder andere Zeiten kommen, mit mehr Aufträgen, Veranstaltungen, mit mehr Einkommen. Nun hat Corona dieses Wissen zerschlagen: In den kommenden vier Wochen wurden mir alle Veranstaltungen abgesagt, was ein Einkommen von null Euro bedeutet. Zwei Grundschulkinder, die fünf Wochen lang zu Hause bleiben und betreut werden müssen und auch gefüttert. Kein Arbeitgeber, der mir weiterhin monatlich Lohn überweist. So geht es vielen – Künstlern, Freischaffenden, Selbstständigen. Wir sind, auch wenn es dramatisch klingt, in einer prekären Lage. Wie lang die anhält, wie lange wir sie aushalten können: nicht die geringste Ahnung. Aber das steht wohl im Zeichen der Zeit.

Yael Nachshon Levin, Musikerin und Kulturmanagerin
Die Situation rund um das Coronavirus stellt mein Leben und das Leben meiner Freunde und Kollegen auf den Kopf. Unser täglicher Job besteht in »normalen Zeiten« darin, vor Publikum aufzutreten. In der derzeitigen Situation sind alle meine Freunde aus Musik, Tanz und Theater ohne jegliche Arbeit und in einer wirklich problematischen Lage. Als Musikerin sowie Initiatorin und Managerin der Kulturinitiative »FRAMED« habe ich in den vergangenen Tagen sehr hart daran gearbeitet, neue, originelle Wege zu finden, weiterzumachen. Natürlich wirkt sich die Corona-Krise finanziell schwer auf Künstler aus. Ich glaube auch in »normalen Zeiten« an die Notwendigkeit, Kultur zu unterstützen. Daher denke ich selbstverständlich, dass der Staat einen Weg finden muss, freien Künstlern zu helfen, diese sehr ungewöhnliche Zeit zu überleben.

Sigalit Feig, Sängerin und Tänzerin
Ich bin an der Komischen Oper angestellt. Vorerst bis einschließlich 19. April sind alle Opernhäuser in Berlin geschlossen, unseres auch. Wir wissen nicht, wie lange darüber hinaus. Ich habe einen Gastvertrag, in dem der Absatz der »höheren Gewalt« niedergeschrieben ist. Ich kann nicht sagen, ob ich auch finanziell betroffen bin. Es könnte durchaus sein. Meine Freunde und Kollegen machen sich große Sorgen. Am meisten in Gefahr sind die kleinen, nicht vom Staat subventionierten Theater. Sie versuchen, ihren Spielbetrieb noch aufrechtzuerhalten. Wenn sie ihre Leute nicht zusammenkriegen, weil sie etwa nicht ausgeflogen werden können, dann haben sie wirklich ein Problem. Das Verständnis für uns Künstler, die als Freie immer auf den nächsten Job angewiesen sind, ist kaum da. Die Politik sollte die Künstler finanziell entschädigen, die in dem Moment, in dem sie nicht auf der Bühne stehen, auch kein Geld bekommen. Gerade in so einer Krise sollte man verstärkt auf diese Gruppe gucken.

Dmitrij Kapitelman, Journalist und Schriftsteller
So wie vielen freischaffenden Kolleginnen und Kollegen entgehen auch mir einige Tausend Euro durch die abgesagten Auftritte und Lesungen. Dank eines Buchvertrags kann ich aber zumindest weiter meine Rechnungen zahlen. Das ist ein großer Segen, für den ich sehr dankbar bin. Wäre es richtig, dass der Staat die lahmgelegte Kulturbranche auffängt? Selbstverständlich. Bedingungsloses Grundeinkommen? Wann, wenn nicht jetzt! Wird das tatsächliche Politik? Ich fürchte nicht. Die finanziellen Solidaritätssignale der Regierung richten sich derzeit vor allem an Unternehmen. Anders gefragt, wenn die Börse an einem Tag zweieinhalb Billionen Dollar verliert, wie viel bleibt dann für Gedichte? Am Buch werde ich in nächster Zeit nur am Rande schreiben, da ich kurzfristig den Russische-Spezialitäten-Laden meiner Eltern übernommen habe, damit sie (beide über 60) zu Hause bleiben können. Das Geschäft vorübergehend zu schließen, bedroht ihre Existenz. Weiter dort zu arbeiten, gefährdet ihre Gesundheit. Covid-19 beschert Selbstständigen ein echtes Vir-Gefühl.

Thomas Meyer, Schriftsteller
Natürlich bin ich traurig, dass nun eine Lesung nach der anderen abgesagt wird, und natürlich wäre es mir lieb, für die wegfallenden Einnahmen entschädigt zu werden. Und sei es nur teilweise. Aber mit diesem Wunsch stehe ich gewiss nicht allein da. Unzählige andere Künstler können jetzt nicht auftreten, und auch die Veranstalter und all ihre Zulieferer sehen sich mit Einbußen konfrontiert. Ein Selbstständiger aus jener Branche fragte heute auf Twitter einigermaßen verzweifelt, ob jemand einen Job für ihn habe – irgendeinen. Von einem solchen Aufruf fühle ich mich zum Glück weit entfernt, da ich nicht nur fürs Vorlesen bezahlt werde, sondern auch fürs Schreiben. Dennoch wäre Nothilfe für Kulturschaffende grundsätzlich angebracht. Die Grundlage dafür könnte die letzte Steuererklärung sein, und die abgesagten Anlässe lassen sich ja nachweisen. Aber im Gegensatz zu einer Großbank ist so ein Künstler halt nicht systemrelevant.

Ran Nir, Musiker und Musikmanager
Covid-19 wirkt sich leider sehr direkt und schlimm auf mich sowie meine Freunde und Kollegen aus. Menschen verlieren ihre Jobs, da sie keinerlei Auftritte mehr absolvieren können. Das bedeutet, dass Monate um Monate Arbeit und Planung Makulatur sind. Da die Corona-Krise sich immer weiter entfaltet, gefährdet sie alle bis September geplanten und gebuchten Auftritte von mir und der von uns vertretenen Künstler. Jede abgesagte Show bedeutet, dass dem Künstler sämtliche Einnahmen entgehen, mit denen er rechnete. Das betrifft auch Bandmusiker, Manager und Crew sowie natürlich auch den Ort und die Promoter des Auftritts. Wenn es noch monatelang oder noch länger so weitergeht, wird es zu einem großen Problem für Musiker, da Live-Auftritte für einen sehr großen Teil ihres Einkommens sorgen. In der jetzigen Situation sollte der Staat auf jeden Fall freischaffende Künstler unterstützen. Wie auch immer die Unterstützung letztlich aussieht, wäre sie definitiv besser als nichts.

Jascha Nemtsov, Pianist und Musikwissenschaftler
Ich habe eine Petition unterschrieben, die vom Bundestag »Hilfen für Freiberufler und Künstler« einfordert, rechne aber nicht damit, dass sie wirkt. Deutschland ist auf diesem Gebiet ein politischer Flickenteppich, schnelle und effektive Handlungen sind kaum zu erwarten. Viele Politiker sind ohnehin nur gewöhnt, die Verantwortung für den eigenen Sessel zu tragen. Wenn es zur Verteilung von angekündigten staatlichen Hilfen kommt, werden die notleidenden Künstler – angesichts der dramatischen Lage für viele Wirtschaftszweige, darunter auch die Kulturindustrie – sich vermutlich ganz hinten anstellen müssen. Umso wichtiger wäre es jetzt, in unserer staatsgläubigen Gesellschaft wieder bürgerliche Tugenden zu lernen und eigene Initiativen zu entwickeln. Persönlich bin ich weniger betroffen, weil ich angestellt und daher abgesichert bin. Dennoch ist es schade um die abgesagten Konzerte, besonders um ein Konzert, in dem ich Werke von Hans Heller, einem großartigen jüdischen Komponisten, der in der NS-Zeit verfolgt und dann vergessen wurde, erstmals spielen sollte.

Aufgeschrieben und zusammengestellt von Eugen El

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