Zeitgeschichte

»Eine positive Rolle«

Diplomat und Historiker: Tibor Shalev Schlosser Foto: imago stock&people

Herr Shalev Schlosser, in Ihrer Doktorarbeit, die Sie derzeit am Richard Koebner Minerva Center for German History in Jerusalem schreiben, beschäftigen Sie sich mit den Beziehungen zwischen Deutschland und Israel in den Jahren zwischen 1990 und 2013. Warum dieser Zeitraum?
Obwohl ich im diplomatischen Dienst bin, werde ich alle Fragen als Wissenschaftler beantworten. So hatte ich das Privileg, in den Jahren zwischen 1991 und 1995 am Aufbau des israelischen Generalkonsulats in Berlin beteiligt zu sein. Auf diese Weise lernte ich nicht nur die spätere Hauptstadt und viele ihrer politischen Akteure kennen, sondern auch die Menschen in den neuen Bundesländern, und das unmittelbar nach der Wiedervereinigung. Von 2011 bis 2013 war ich erneut als Diplomat in Deutschland tätig, diesmal als Generalkonsul unserer neuen Vertretung in München, die für die Beziehungen mit den Bundesländern im Süden zuständig ist. Ich schließe mit dem Jahr 2013, weshalb der Aufstieg der AfD in meiner Doktorarbeit nicht mehr berücksichtigt wird.

Gab es auch inhaltliche Gründe für die Wahl dieses Zeitraums?
Auf jeden Fall! Die Wiedervereinigung habe ich als einen Wendepunkt in den deutsch-israelischen Beziehungen wahrgenommen. Nicht zuletzt deshalb, weil Deutschland in den Jahren danach zu unserem wichtigsten Partner in der EU wurde.

Wann kam Ihnen die Idee für die Doktorarbeit?
Die Idee dazu reifte 2013 nach meiner Rückkehr nach Israel, weil mir bestimmte Dissonanzen aufgefallen sind. Auf der einen Seite wurden die Beziehungen auf politischer, wirtschaftlicher oder kultureller Ebene immer intensiver und vielschichtiger, auch im Bereich Sicherheit. Auf der anderen Seite konnte ich jedoch beobachten, wie sich in der öffentlichen Meinung in Deutschland eine gewisse Distanz zu Israel entwickelte. Das hat mich irritiert, weshalb ich begann, nach den Gründen dafür zu suchen.

Inwieweit hat die deutsche Wiedervereinigung das Verhältnis zu Israel beeinflusst?
Es gab in Israel damals Bedenken, dass sich das Verhältnis dadurch vielleicht verschlechtern könnte. Man wusste ja, dass die DDR uns gegenüber eine feindselige Politik betrieben hatte und die Bevölkerung lange Zeit einer antizionistischen Propaganda ausgesetzt war. Zudem gab es dort einen völlig anderen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit als in der Bundesrepublik. Auch gab es Ängste vor einem vereinten Deutschland, die viel mit der Geschichte zu tun haben. Doch dann geschah genau das Gegenteil. Die Ängste sollten sich nicht bewahrheiten, und die Beziehungen wurden intensiver als jemals zuvor.

Können Sie dafür Beispiele nennen?
Beispielsweise hatte Deutschland als größter Mitgliedstaat der Europäischen Union maßgeblichen Anteil daran, dass Israel nicht nur in zahlreiche Forschungsprogramme der EU integriert wurde, sondern oftmals politische Rückendeckung bekam. Auch entwickelten die Ostdeutschen trotz der jahrzehntelangen Indoktrination ein reges Interesse an Israel und wollten das Land unbedingt kennenlernen.

Spielten andere weltpolitische Ereignisse ebenfalls eine Rolle?
Da ist der Golfkrieg von 1991 zu nennen. Nachdem bekannt wurde, dass deutsche Unternehmen Saddam Hussein bei der Entwicklung von Chemiewaffen unterstützt hatten, aber auch unter dem Eindruck der Zerstörung, die irakische Scud-Raketen in Israel angerichtet hatten, fand ein Umdenken statt. Deutschland begann, sich stärker als zuvor für die Sicherheit Israels einzusetzen.

Drei Bundeskanzler gab es zwischen 1990 und 2013: Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel. Wie unterschieden sich diese in ihrer Haltung gegenüber Israel? Was war ihnen allen gemeinsam?
Alle drei haben Israel in vielerlei Hinsicht unterstützt, jeder auf seine Art. Das hat aber auch mit den jeweiligen Entwicklungen in der Region zu tun, die in ihre Regierungszeit fielen, und zwar dem Friedensprozess von Oslo, der Zweiten Intifada sowie dem Erstarken des islamistischen Terrorismus und dem Atomwaffenprogramm des Iran.

Wie sah das konkret aus?
Alle drei Bundeskanzler spielten eine aktive Rolle und das auf ganz unterschiedlichen Politikfeldern. Kohl tat eine Menge für die Verbesserung unserer Sicherheit, förderte die Beziehungen der EU mit Israel und den Prozess von Oslo. Schröder war etwas distanzierter. Er besuchte das Land nur ein einziges Mal, blieb dem Prinzip der Unterstützung auf sicherheitspolitischem Gebiet aber treu. Merkel dagegen wertete die Beziehungen demonstrativ auf, als sie erklärte, dass die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson gehört. Alle sahen es zudem stets als ihre persönliche Aufgabe, die Erinnerung an die Schoa zu bewahren.

Im Auswärtigen Amt hatten in diesen Jahren oft die kleinen Koalitionspartner das Sagen, also die FDP und die Grünen. Wie sehr prägten Außenminister wie Hans-Dietrich Genscher, Klaus Kinkel, Joschka Fischer oder Guido Westerwelle die Politik gegenüber Israel?
Alle spielten eine positive Rolle, manche sogar eine sehr zentrale, wie Klaus Kinkel und Joschka Fischer, der sich in der Zeit der rot-grünen Koalition durch seinen persönlichen Einsatz auszeichnete und vielleicht stärker als Gerhard Schröder die deutsche Nahostpolitik mitbestimmte. Fischer hatte sowohl zu Arafat als auch zu Ministerpräsident Ariel Scharon einen sehr guten Draht. Das ermöglichte ihm während der Zweiten Intifada, nach dem blutigen Anschlag am Dolphinarium in Tel Aviv im Juni 2001 eine wichtige Vermittlerrolle zu übernehmen, was wiederum eine Eskalation verhindern sollte.

In dieser Phase machte auch der Integrationsprozess der EU große Fortschritte. Welche Rolle spielte Deutschland, wenn es darum ging, Israel in europäische Projekte einzubinden?
Deutschland war oft der Türöffner. Neben der Einbindung in wichtige Forschungsprogramme ist da vor allem das 1995 unterzeichnete Assoziierungsabkommen zwischen Israel und der EU zu nennen. Dass Israel in den 90er-Jahren einen privilegierten Status erhielt, war ebenfalls dem Engagement von Helmut Kohl und Klaus Kinkel zu verdanken. Gerhard Schröder und Joschka Fischer knüpften daran an und bauten diese Beziehungen weiter aus. Ministerpräsident Ehud Barak bezeichnete deshalb 1999 nicht ohne Grund Deutschland als Israels Botschafter bei der EU. Aber auch bei der Aufnahme Israels in die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 2010 und in die Regionalgruppe der westlichen Staaten bei den Vereinten Nationen spielte Deutschland eine wichtige Rolle als Fürsprecher.

Und worin bestanden die Vorteile für Deutschland?
Deutschland handelte dabei im Bewusstsein seiner historischen Verantwortung und im Rahmen der besonderen Beziehungen, aber manchmal auch aus pragmatischen Gründen. Schließlich profitieren beide Seiten von dieser Partnerschaft, zum Beispiel im Bereich Forschung. Die Hightech-Nation Israel ist in vielen Bereichen weltweit führend. Nicht ohne Grund haben in letzter Zeit viele renommierte deutsche Unternehmen in Israel Forschungseinrichtungen aufgebaut.

Die Sympathiewerte für Israel sanken immer dann, wenn es in der Region zu Konflikten kam. Gibt es einfach nur Defizite im Wissen um die Situation vor Ort, oder werden oftmals an Israel höhere Maßstäbe gesetzt als an andere Länder?
Die Daten dazu zeigen, dass die Sympathiewerte immer in bestimmten Konfliktsituationen sinken, beispielsweise während der Zweiten Intifada. Das hat viel damit zu tun, dass Israel als die stärkere Seite wahrgenommen wird und die palästinensische als die schwächere. In Deutschland wie auch in der übrigen EU neigt man dazu, fast reflexartig Partei für die anscheinend schwächere Seite einzunehmen. Einer der Gründe dafür ist aber auch der Mangel an Erfahrungen. Keiner dieser Staaten muss so wie Israel seine Bevölkerung vor Selbstmordanschlägen oder Raketenangriffen schützen.

Sie schreiben davon, dass es jetzt in Deutschland eine deutlich kritischere Haltung gegenüber Israel gibt als noch vor 30 Jahren. Wie wirkt sich das aus?
Meinungsumfragen spiegeln diesen Trend wider. Eine davon, die Anfang 2012 für den Deutschen Bundestag erstellt wurde, möchte ich zitieren. Demnach haben rund 20 Prozent der Befragten eine antisemitische Einstellung. Darüber hinaus stehen aber mittlerweile weitere 20 Prozent Israel explizit negativ gegenüber. Diese Haltung wird zunehmend auch in der Politik spürbar. Bereits gegen Ende des ersten Jahrzehnts nach der Jahrtausendwende mehrten sich die israelkritischen Stimmen, auch aus Regierungskreisen. Ungeachtet der Tatsache, dass in manchen Foren der internationalen Politik eine gewisse Erosion der traditionellen Unterstützung Deutschlands zu beobachten war oder die öffentliche Meinung zu Israel mehr auf Distanz ging, entwickelten sich die bilateralen Beziehungen jedoch weiter zum Positiven.

Ist das Thema deutsch-israelische Beziehungen vielleicht ein Elitenprojekt?
Da müsste man zuerst einmal definieren, was unter Eliten zu verstehen ist. Auch wenn es einen Unterschied zwischen der öffentlichen Meinung und der Regierung in der Haltung gegenüber Israel gibt, lässt sich mit Gewissheit sagen, dass es in vielen Teilen der deutschen Öffentlichkeit starke Sympathien für Israel gibt, die nicht unbedingt in den Meinungsumfragen zum Ausdruck kommen. Diese zeigen sich unter anderem in den vielen Arbeitsgruppen der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, im Jugendaustausch oder in den unzähligen Städtepartnerschaften.

Auf welchen Ebenen kommt dieses besondere Verhältnis am stärksten zum Ausdruck?
Beispiele dafür finden sich auf gleich drei Ebenen, und zwar der Politik, der Sicherheit und der Wirtschaft. Da gibt es die seit 2008 jährlich stattfindenden Regierungskonsultationen. Dann die Tatsache, dass die von Kohl und Schröder zugesagten U-Boote einen unschätzbaren Beitrag zum Aufbau von Israels Abschreckungspotenzial leisten. Seit 1993 treffen sich regelmäßig die Stabschefs beider Länder zu Gesprächen über Sicherheit, woraus längst eine Art Strategiedialog wurde. Deutschland agierte mehrfach als Vermittler, wenn es darum ging, israelische Geiseln, die sich in der Hand von Hamas oder Hisbollah befanden, freizubekommen. Umgekehrt profitiert Deutschland von israelischen Technologien, die die Bundeswehr bei Auslandseinsätzen benutzt, sowie von nachrichtendienstlichen Informationen bei der Abwehr der Terrorgefahr. Last but not least hat sich das deutsch-israelische Handelsvolumen seit der Wiedervereinigung mehr als verdreifacht.

Und wie hat sich Ihr persönliches Verhältnis zu Deutschland entwickelt?
Als ich 1991 in Berlin landete, hatte ich mir viele Gedanken gemacht, was mich hier wohl erwarten würde. Dann spürte ich dieses enorme Interesse an Israel, erst in den fünf neuen Bundesländern, dann in Süddeutschland, das mich zutiefst beein-druckte. Viele Freundschaften und auch die zahlreichen Kontakte zu Vertretern aus der jüdischen Gemeinschaft, wie beispielsweise zu Charlotte Knobloch, haben mir das Gefühl gegeben, in Deutschland ein wenig zu Hause zu sein.

Das Gespräch führte Ralf Balke.

Tibor Shalev Schlosser, geboren 1961, war von 1991 bis 1995 Vizekonsul und Konsul am israelischen Generalkonsulat in Berlin und 2011 bis 2013 Generalkonsul des Staates Israel in München. Seit 2016 ist er Botschafter für die Pazifischen Inselstaaten und derzeit israelischer Botschafter in Australien.

USA

Daniel Kahneman ist tot

Der Wissenschaftler Daniel Kahneman kombinierte Erkenntnisse aus Psychologie und Ökonomie

 28.03.2024

Bildung

Kinderbuch gegen Antisemitismus für Bremer und Berliner Schulen

»Das Mädchen aus Harrys Straße« ist erstmals 1978 im Kinderbuchverlag Berlin (DDR) erschienen

 27.03.2024

Bundesregierung

Charlotte Knobloch fordert Rauswurf von Kulturstaatsministerin Roth

IKG-Chefin und Schoa-Überlebende: »Was passiert ist, war einfach zu viel«

 26.03.2024

Kultur

Über die Strahlkraft von Europa

Doku-Essay über die Theater-Tour von Autor Bernard-Henri Levy

von Arne Koltermann  26.03.2024

Projekt

Kafka auf Friesisch

Schüler der »Eilun Feer Skuul« in Wyk auf Föhr haben ihre friesische Version des Romans »Der Verschollene« vorgestellt

 25.03.2024

Sachbuch

Persönliches Manifest

Michel Friedman richtet sich mit seinem neuen Buch »Judenhass« bewusst an die allgemeine Öffentlichkeit, er appelliert aber auch an den innerjüdischen Zusammenhalt

von Eugen El  25.03.2024

Berlin

Hetty Berg als Direktorin des Jüdischen Museums bestätigt

Ihr sei es gelungen, die Institution »als Leuchtturm für jüdisches Leben« weiterzuentwickeln, heißt es

 25.03.2024

Judenhass

Wie der Historikerstreit 2.0 die Schoa relativiert

Stephan Grigat: Der Angriff auf die »Singularität von Auschwitz« kommt nun von links

 25.03.2024

László Krasznahorkai

Geschichten am Rand eines Strudels

Jedes Jahr wird der Ungar als Literaturnobelpreisträger gehandelt. Drei neue Erzählungen zeigen seine Meisterschaft

von Maria Ossowski  24.03.2024