Ljudmila Ulitzkaja

Einblick in die russische Seele

»Ich kann nicht schlafen, denn mein Schlaf ist gestört«: Die Autorin Ljudmila Ulitzkaja ist eine scharfe Kritikerin des Krieges gegen die Ukraine. Foto: picture alliance / dpa

Ljudmila Ulitzkaja

Einblick in die russische Seele

Zum 80. Geburtstag der Schriftstellerin, die seit März 2022 im Berliner Exil lebt

von Ellen Presser  19.02.2023 20:31 Uhr

Die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja wird 80 Jahre alt. Ein angemessenes Geschenk wäre in diesem Jahr die Nominierung für den Literaturnobelpreis. Denn ihre Werke gelten schon jetzt als Klassiker der modernen russischen Literatur.

Ulitzkajas Themen sind die Auswirkungen des Totalitarismus auf Individuum und Gemeinschaft, die Veränderungen der sowjetischen und postsowjetischen Gesellschaft. Für die studierte Biologin ist es offensichtlich ein Leichtes, Phänomene ihrer Zeit, Erlebnisse ihrer Vorfahren wie auch Prozesse in der russischen Geschichte aufzunehmen, zu sezieren und zu beschreiben.

zeitläufte Stets geht sie von einem verbürgten Ereignis aus, das sich so oder so ähnlich abspielte, oder von einem Lebenslauf, der von den jeweiligen Zeitläufen überschattet und geformt, so gut wie immer auch beschädigt oder ruiniert wurde. Ihre Bücher erweisen sich als röntgenblicktiefe Studien über die menschliche Natur.

Von ihrer literarischen Anamnese, der Dokumentation der Vorgeschichten, könnte der Weg über die Diagnostik zur Heilung menschlicher Fehlentwicklungen führen. Aber Ulitzkaja sieht es als Aufgabe der Literatur, Probleme von allen Seiten zu betrachten, nicht jedoch, Lösungen zu bieten.

Ihr Leben scheint wie aus dem Stoff für russisch-jüdische Albträume.

Ihren Roman Reise in den siebenten Himmel (2001) charakterisierte sie einmal als »Enzyklopädie des russischen Lebens«, als Dokument »über die Grenzen des menschlich Möglichen«. Man könnte dieses Diktum über ihr ganzes schriftstellerisches Schaffen setzen. Und wo die Grenzen überschritten werden, was mit Fahrlässigkeit, Vorsatz, Machtgier sehr schnell geschehen kann, all das liefert ihr die Beispiele von der Leidensfähigkeit des Einzelnen wie auch von der Grausamkeit und Willkür von Machtapparaten.

HUMOR Ulitzkajas Lebensgeschichte könnte man als einen Stoff betrachten, aus dem russisch-jüdische Albträume gemacht sind. Dass sie darüber nie verzweifelt ist, mag an ihrem Verständnis für (fast) alles Menschliche, ihrem Pragmatismus und nicht zuletzt ihrem Humor liegen. Geboren wurde sie am 21. Februar 1943 in Dawlekanowo im Ural während der Evakuierung ihrer Eltern, die dorthin verbannt waren.

Sie wuchs in Moskau auf, durfte Biologie studieren und ab 1967 als Genetikerin arbeiten. Im Nachwort ihrer Erzählung »Eine Seuche in der Stadt«, 1978 geschrieben, doch erst 2020 auf Russisch und 2021 auf Deutsch publiziert, erwähnt sie lapidar, sie habe sich 1978 von der Biologie verabschiedet und ihre Arbeit als Genetikerin beendet.

Tatsächlich brach ihre Karriere bereits 1969 ab. Am Arbeitsplatz im Akademie-Institut hatte sie Kontakt zu einem privaten Lesekreis gefunden. Die Lektüre des Romans Exodus von Leon Uris wurde zum Verhängnis. Jemand verriet die Gruppe an den KGB – und alle Beteiligten wurden entlassen. Für Ulitzkaja bedeutete das ein Jahrzehnt Rückzug in die Familie.

1979 übernahm sie dann für drei Jahre die Stelle einer Dramaturgin am Jüdischen Kammermusiktheater. Sie arbeitete vollkommen autodidaktisch als Lektorin, Rezensentin und Theaterkritikerin. Ihre Karriere als Schriftstellerin begann relativ spät; lange wurden ihre Novellen aus »künstlerischen Gründen« von Literaturzeitschriften im Lande abgelehnt.

ZENSUR Es war nichts anderes als Zensur und Bestrafung. Die Erzählung »Sonetschka« (1992) konnte man schließlich nicht mehr ignorieren, auch das Ausland wurde aufmerksam. 1996 erschien sie in Frankreich, bald ausgezeichnet mit dem Prix Médicis. Ob in Kurzgeschichte oder Roman, Medea und ihre Kinder, Olgas Haus, Die Lügen der Frauen, Maschas Glück, aber auch Ein fröhliches Begräbnis und Ergebenst, euer Schurik erscheinen – ob sichtbar im Titel oder auch unsichtbar – Frauen als Zentrum der Familie, als Ernährerinnen und allzu oft als Spielball männlicher Schwächen.

Ulitzkajas Erfolg im Ausland hat sicherlich auch mit ihrem Glück guter Übersetzungen zu tun. In Deutsch hat sie in Ganna-Maria Braungardt, deren Russisch DDR-gedrillt hervorragend ist, ihre kongeniale Übersetzerin gefunden.

In einer jüdischen Welt aufgewachsen, sind oder waren Ulitzkajas Protagonisten meist Juden. Ihr Roman Daniel Stein beschreibt das Leben des Konvertiten Daniel Rufeisen und spiegelt – so ihre Worte – ihre »eigene Glaubenskrise« wider. Sie selbst wurde zum Christentum geführt durch den orthodox getauften Priester Alexander Men. 1968 oder 1969 ließ sie sich taufen, wann genau, weiß sie selbst nicht mehr. »Am Ende einer jahrelangen intensiven Suche« hat sie sich »von allen offiziellen Religionsformen gelöst«, doch das Bild vom Abendmahl, eine Runde von Christen, die sie auf ihrem Lebensweg kennenlernte, ist ihr geblieben.

Die Autorin kann Politik überhaupt nicht leiden, »aber die Situation zwingt mich dazu«.

Inzwischen wird Ljudmila Ulitzkaja als »Tschechow eines um 100 Jahre älter gewordenen Russland« bejubelt. Allerdings nicht von allen. Ihr Diktum, »Ich kann Politik überhaupt nicht leiden, aber die Situation zwingt mich dazu, politisch zu sein«, bringt sie seit mehr als einem Jahrzehnt dazu, mit deutlichen Worten gegen »Unbildung, Nationalismus und imperiale Großmannssucht« ihres Heimatlandes zu opponieren. 2016 bescherte ihr dies eine »Seljonka-Attacke«: Nationalisten begossen sie mit grüner Farbe.

geschichtsbücher Mundtot hat sie das nicht gemacht. Im Februar 2022 schrieb sie in der »Nowaja Gaseta«: »Der Wahnsinn eines Mannes und seiner treuen Helfer lenkt das Schicksal des Landes. Man kann nur darüber spekulieren, was in 50 Jahren darüber in den Geschichts­büchern geschrieben wird. Schmerz, Furcht, Scham – das sind die Gefühle von heute.« Aufgrund neuer Zensurgesetze wurde der Text von der Webseite gelöscht.

Seit März 2022 wohnt Ulitzkaja mit ihrem dritten Mann, dem Künstler Andrei Krassulin, in einer Zweizimmerwohnung in Berlin. Im Vorwort zu ihrer jüngsten, unbedingt lesenswerten Textsammlung Die Erinnerung nicht vergessen möchte sie »das Ende dieses Kriegsirrsinns noch erleben und zurückkehren nach Moskau, in meine Wohnung, in die gewohnte und geliebte Welt, in der ich mich ›am rechten Ort‹ fühle«.

Kein Wort darüber, ob dieser fragile Hort der Geborgenheit noch auf sie wartet. Inzwischen sitzt sie mit ihrem Computer »wie immer in der Wohnküche«. Ruhe findet sie dort nicht: »Ich kann nicht schlafen, denn mein Schlaf ist gestört – der Tag beginnt mit den Nachrichten im Internet und endet am Abend damit.«

Ljudmila Ulitzkaja: »Die Erinnerung nicht vergessen«. Hanser, München 2023, 192 S., 23 €

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