Berlin

Ein streitbarer Intellektueller

Micha Brumlik (1947-2025) Foto: Gregor Zielke

Die Nachricht kommt nicht überraschend. Micha Brumlik, ein langjähriger Weggefährte, ist am Montag nach langer Krankheit im Alter von 78 Jahren gestorben. Es ist eine Nachricht, die mich schmerzt. Wir kannten uns beinahe 50 Jahre, also, wenn man so will, ein halbes Jahrhundert. Wen ich mich nicht irre, trafen wir uns zum ersten Mal bei irgendeiner der »Jugend- und Kulturtage«, die Mitte/Ende der 70er-Jahre vom Zentralrat der Juden organisiert wurden. Das Freundschaftsverhältnis, das damals entstand, hat ein Leben lang gehalten.

Der Kontakt zwischen Micha und mir vertiefte und intensivierte sich Anfang der 80er-Jahre, als sich im Gefolge der einsetzenden Kritik am Libanon-Krieg 1982 in Frankfurt und anderen Städten »Jüdische Gruppen« bildeten, die sich regelmäßig trafen, um über die Auswirkungen dieses Krieges auf Deutschland und die jüdischen Gemeinden zu beraten.

Nachhaltige und prägende Treffen

Die damaligen Zusammenkünfte in den Räumen der Evangelischen Akademie Arnoldshain im Taunus sind mir in bleibender Erinnerung. Die dort zusammenkamen, waren zumeist Jüngere, Studenten, intellektuelle Außenseiter, aber auch der eine oder andere Unzufriedene, der zu den Gemeinden in Deutschland und ihren Funktionären auf Distanz gegangen war. Es einte uns alle die Sorge, dass durch die politischen Entwicklungen im Nahen Osten schwierige Zeiten, auf die Juden zukommen würden.

Es waren Treffen, die auf diejenigen, die dabei waren, einen nachhaltigen und prägenden Eindruck machten. Wir sprachen über Gott und die Welt, fragten, was jüdische Identität im Nach-Schoa-Deutschland ausmacht, streiften die Schmerzzonen deutsch-jüdischen Erinnerns und tauschten uns darüber aus, was einen bis dahin persönlich geprägt und beeinflusst hatte.

Wir stritten, brüllten uns an und versöhnten uns wieder

Viele, die sich damals in der Akademie im Taunus einfanden, waren zumeist Linke, manche waren, wie mir erinnerlich ist, überzeugte und bekennende Marxisten, andere definierten sich als Angehörige irgendwelcher obskurer jüdischer Splittergruppen, die teils trotzkistisch, teils maoistisch geprägt waren. Aber es waren auch Zionisten verschiedenster Couleur unter uns, die angestoßen von den politischen Ereignissen auf der Suche nach praktikablen Modellen für eine Lösung des andauernden israelisch-palästinensischen Konfliktes waren.

Es war eine bunte Mischung von Teilnehmern, die sich dort versammelte. Wir tagten nächtelang rund um die Uhr. Wir stritten, brüllten uns an, versöhnten uns dann aber auch wieder. Einig waren wir uns jedenfalls, dass irgendetwas geschehen müsse, dass wir als Juden in Deutschland in einer »Nicht-Normalität« lebten. Die Identitätsfrage trieb uns um. Wer sind wir? Wo gehören wir hin? Hat jüdisches Leben in Deutschland noch eine Zukunft?

Micha war hin- und hergerissen

Einige von uns identifizierten sich vorbehaltlos mit der israelischen Regierungspolitik Menachem Begins, andere waren strikte Gegner, die von einem säkularen Staat in der Nahost-Region träumten, einem Staat, in dem die Menschen, Juden und palästinensische Araber, friedlich neben- und miteinander leben würden. Micha war einer derjenigen, der es verstand, die unterschiedlichen Einstellungen und Positionen zu moderieren. Er selbst war hin- und hergerissen, einmal war er ein Zionismus-Befürworter, dann wieder ein harscher Kritiker der Bewegung.

Im Verlauf der Jahre haben wir uns nicht aus den Augen verloren. Micha Brumlik schlug eine akademische Laufbahn als Hochschullehrer in Heidelberg und Frankfurt ein, ich in Duisburg und dann in Potsdam. Auf Tagungen und Konferenzen, die sich mit dem deutsch-jüdischen beziehungsweise dem christlich-jüdischen Verhältnis befassten, trafen wir immer wieder aufeinander. Ich veröffentlichte Texte in von Micha Brumlik verantworteten Sammelbänden und umgekehrt er in den von mir herausgegebenen Büchern.

Wir waren nicht immer einer Ansicht. Als Micha Brumlik in Anleihe bei dem Schriftsteller Jakob Wassermann und dessen Buch Mein Weg als Deutscher und Jude (2021) unter dem Titel Kein Weg als Deutscher und Jude (1996) Erinnerungen und Bekenntnisse veröffentlichte, antwortete ich einige Jahre später mit autobiografischen Notizen, die ich – Micha gewissermaßen konterkarierend – mit dem Titel Mein Weg als deutscher Jude (2009) versah.

In beiden Autobiografien ging es nicht nur um gemachte Erfahrungen, sondern um Selbstbefindlichkeiten, die verständlicherweise unterschiedlich ausfielen, aber im Rückblick erkennen lassen, dass Micha und ich einer Generation von jüdischen Nachgeborenen angehörten, die im Exil der Eltern das Licht der Welt erblickt hatten, aber nach der Rückkehr der Eltern in der alten Bundesrepublik aufgewachsen sind.

Ein öffentlicher Intellektueller mit streitbaren Ansichten

Micha Brumlik war ein »public intellectual«, wie es heute so schön heißt, der sich in vielen Debatten zu Wort gemeldet hat. Mitunter berechtigt, dann aber auch wieder über das Ziel hinausschießend. Sich einmischend nahm er manchmal an Kämpfen teil, die eigentlich seinem Naturell nicht entsprachen. So engagierte er sich bei den Grünen und ließ sich als Stadtverordneter in Frankfurt aufstellen. Aber, es dauerte nicht lang, dann überwarf er sich mit der Partei und trat mit Aplomb aus dieser wieder aus.

Manche von Micha eingenommenen politischen Positionen habe ich unterstützt, andere abgelehnt, häufig jedoch auch nicht verstanden. Zum Beispiel, als er 2021 die »Jerusalem Declaration on Antisemitism« (JDA) unterzeichnete, die sich gegen die Antisemitismusdefiniton der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance) von 2016 wandte, waren nicht nur ich, sondern auch manche seiner Freunde einigermaßen irritiert.

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Seine Sicht des Definitionsstreites hat Micha in dem Buch Postkolonialer Antisemitismus? ausgeführt, dem er den treffenden Untertitel Achille Mbembe, die palästinensische BDS-Bewegung und andere Aufreger gab. In dem Buch zeigte er sich bemüht, den Debattenverlauf in Deutschland zu entschärfen, indem er unter anderem fragte, ob die Schoa mit anderen Genoziden verglichen werden kann. Keinesfalls, so meinte er, könne sie gleichsetzt werden, wie das heute viele Israel-Kritiker und BDS-Befürworter gerne tun.

Aber auch wenn er mitunter eine strittige Position einnahm, hat ihn das nicht abgehalten, dezidiert zu heiklen Themen immer wieder Position zu beziehen. Das konnten, wie gesagt, politische »Aufreger« sein, wie die israelische Nahostpolitik, aber es konnte auch die unschöne Bewertung einer akademischen Abschlussarbeit sein, die Micha empörte und ihn bewog, sich hinter die studentische Verfasserin der Arbeit zu stellen. In diesem Fall waren es die erkennbar ungerechten Beurteilungen (»Lutherische Notengebung«) einiger Theologieprofessoren der Humboldt-Universität, die ihm missfielen.

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Micha nahm die Argumente des Anderen stets ernst

In der Regel war das, was Micha in Debatten äußerte, sehr differenziert und nuanciert, manchmal deutlich aneckend, wie beispielsweise seine Kritik an dem Verhalten der genannten Theologieprofessoren, deren Ansichten zu den christlichen Wurzeln der Judenfeindschaft er nicht teilte und die er kenntnisreich in der Öffentlichkeit zu zerpflücken verstand.

Eine solche Kritik, wie er sie in manchen seiner publizistischen Arbeiten übte, war nicht besserwisserisch, sondern meistens so formuliert, dass seine Gegenüber dem, was er sagte, nur schwer widersprechen konnten. Wenn doch, dann taten sie das häufig schweigend, vermutlich zähneknirschend. Diese Fähigkeit, sich einzumischen, seine Meinung in der Öffentlichkeit zu äußern, habe ich an Micha sehr geschätzt.

Micha Brumlik war dogmatisch nicht festgelegt, sondern stets bemüht, die Argumente des anderen ernst zu nehmen, auch wenn er gegenteiliger Ansicht war. Micha fühlte sich dem traditionellen linken Lager verbunden, aber, und das ist ihm hoch anzurechnen, verweigerte nicht das Gespräch mit politisch Andersdenkenden.

Gemeinsam dachten wir über die jüdisch-deutsche Beziehungsgeschichte nach

Nach seiner Übersiedlung von Frankfurt nach Berlin haben wir regelmäßig abends in der Gaststätte Engelbecken am Berliner Lietzensee zusammengesessen und uns über bestimmte Gesprächserfahrungen ausgetauscht, die wir mit einigen unserer Zeitgenossen machten. Daran denke ich gerne, manchmal sogar mit einem gewissen Schmunzeln, zurück.

Was uns beide immer wieder die Köpfe zusammenstecken ließ, worüber wir gemeinsam nachdachten, war die jüdisch-deutsche Beziehungsgeschichte mit ihren Verirrungen und Verwerfungen. Wir interessierten uns beide für illustre Vertreter der deutschen Geistesgeschichte und deren Einstellungen gegenüber den Juden. Wir fragten, ob es nicht vielleicht doch eine verfolgbare Linie gegeben hat, die von Kant, Schelling und Hegel direkt nach Auschwitz geführt haben könnte.

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Aber wir sprachen auch über jüdische Denker des 19. Jahrhunderts wie Saul Ascher, Leopold Zunz, Salomon Ludwig Steinheim oder Friedrich Julius Stahl, der als Jude (ursprünglich Julius Jolson-Uhlfelder) geboren, zum Protestantismus konvertierte und in seinem späteren Leben mit seiner Theorie vom christlichen Staat Furore machte. Micha war in diesem Zusammenhang besonders an den damit verbundenen theologischen Fragestellungen und Deutungen angetan.

Letzteres war wohl auch der Grund, dass er eine Biografie über meinen Vater Hans-Joachim Schoeps unter dem Titel Preußisch, konservativ, jüdisch (2019) verfasste, in der er Leben und Werk meines Vaters einer kritisch-nachdenklichen Würdigung unterzog. Es finden sich in dem Buch kluge Einsichten, insbesondere was den Einfluss des evangelisch-reformierten Theologen Karl Barth auf meinen Vater betraf.

Als das Buch erschien, überreichte Micha mir ein erstes Exemplar mit der persönlichen Widmung auf dem Vorsatzblatt: »Für Julius, ohne den dieses Buch nie entstanden wäre, dankbar und herzlich Micha, Berlin 25.9. 19«.

Fragen, die lebhaft in Erinnerung bleiben

Eines der letzten Projekte, das wir zusammen mit unserer Kollegin Irmela von der Lühe angingen, war eine Ringvorlesung zum Thema »Messianismus« an der Berliner Humboldt-Universität, die wir nach einigem Hin und Her mit dem Titel »Der Traum von der Erlösung« versahen. Micha, den der Erlösungsgedanke in seinen verschiedenen Erscheinungsformen besonders interessierte, hatte vor, über den umstrittenen Rebben Menachem Mendel Schneerson zu referieren, den spirituellen Begründer der Chabad-Bewegung. Leider kam er – schon krankheitsbedingt - nicht mehr dazu, diesen Vortrag zu halten.

Es bliebe noch manches zu sagen. Die Fragen, die uns in den letzten Jahrzehnten beschäftigten und die wir miteinander an manchen Abenden im Berliner Restaurant Engelbecken verhandelten, bleiben mir jedenfalls lebhaft in Erinnerung. Ich werde Micha Brumlik als Freund und Gesprächspartner sehr vermissen.

Der Autor ist Historiker, Politikwissenschaftler und Gründungsdirektor des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam.

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