Literatur

Ein heiterer Melancholiker

Günter Kunert Foto: dpa

Es gibt Verse von Günter Kunert, die sind mir – seit ich sie zum ersten Mal gelesen habe – nie wieder aus dem Gedächtnis geglitten. Zum Beispiel: »Wir haben im Paradies gelebt / und haben es nicht gewusst / und aber werden es wissen: / Jenseits der fröhlichen Leiden / und nach dem traurigen Glück«.

Auch einzelne Sätze aus seinen Essays sind mir im Gehirn stecken geblieben wie Glasscherben. Etwa: »Geteiltes Leid ist nie halbes Leid. Es ist immer ein verdoppeltes.« Dieser Aphorismus stammt aus einem Aufsatz über Montaigne, der in vielerlei Hinsicht als geistiger Vorfahre von Günter Kunert gelten kann: Melancholiker, dabei quietschvergnügt; ichbesessen, dabei aber zu keiner Zeit egomanisch; abgrundtief skeptisch, aber nie menschenfeindlich. Und außerdem Sohn einer jüdischen Mutter.

Kunert ist abgrundtief skeptisch, aber nie menschenfeindlich.

BIOGRAFIE Dass Günter Kunert 1929 in Berlin als »Mischling ersten Grades« geboren wurde, wusste ich, es steht ja auf jedem Klappentext. Allerdings glaubte ich lange Zeit, er habe vom Judentum eben nur mitbekommen, dass eine jüdische Abstammung höchst ungesund sein kann. Als ich vor ein paar Jahren Kunerts Autobiografie – Erwachsenenspiele – las, erfuhr ich, wie falsch ich damit lag.

Kunert hat als Kind noch eine warmherzige jüdische Mischpoche erleben dürfen, die Mazzeknödel und Krepplach verspeiste, Weihnachten ebenso wie Chanukka feierte und gemeinschaftlich am Küchentisch sang: »Oi oi oi, schicker is der Goj ...« Am lautesten und lustigsten, berichtet Kunert, habe dabei sein goischer Vater mitgesungen.

»Oi oi oi, schicker is der Goj ...«, sang die Familie an Chanukka.

Er war auch schon alt genug, um bewusst zu erleben, wie manche Verwandte ins Exil getrieben und andere »abgeholt« wurden. Während der ganzen Nazizeit trug der kleine Günter eine Mesusa in seiner Hosentasche mit sich herum! Eines Nachmittags war bei Kunerts eine blonde Schönheit zu Gast, in die der kleine Günter sich sofort verliebte: Stella Goldschlag. Zum Glück konnte die »Greiferin« den Kunerts nichts tun – die waren als »Mischehe« vor der Deportation geschützt.

DDR Dass ein Mensch mit einer solchen Familiengeschichte die Soldaten der Sowjetunion mit Begeisterung empfangen hat, es ist wohl verständlich. Dass er dann in der DDR eine Zeit lang das andere, das bessere, das antifaschistische Deutschland erblicken wollte – es ist nur logisch.

Der junge Günter Kunert wurde von Brecht gelobt und gefördert und schrieb Gedichte, in denen er die sozialistische Utopie beschwor: »Eines Tages könnten Polsterer / Die Länder mit grünem Frühling / Und buntem Sommer beziehen ...« Aber die Utopie wurde zusehends brüchig. Und Kunert nahm, obwohl er Mitglied der alleinseligmachenden Staatspartei war, innerlich immer mehr Abstand zur DDR.

Als Zivilisationskritiker ist Kunert trotzdem nie zu einem Feind der liberalen Demokratie geworden.

Das Verhältnis zur Staatsmacht war schon gründlich zerrüttet, als er 1976 gegen die Ausbürgerung seines Freundes Wolf Biermann protestierte. 1979 ging Kunert über die Grenze und lebt seither in der Nähe von Itzehoe auf dem platten Land.

KRITIKER Günter Kunert ist ein Zivilisationskritiker: Er glaubt, dass die Moderne eine stählerne Mausefalle ist und dass wir alle, die in ihr gefangen sind, untergehen müssen. Anders als so viele andere Zivilisationskritiker ist Kunert nie zu einem Feind der liberalen Demokratie geworden.

Ich kann mir nun freilich den Luxus von Kunerts Pessimismus nicht leisten. Das hat einen einfachen Grund: Ich habe einen Sohn. Ich bin also verurteilt zu hoffen, dass wir selbstdressierten Menschenaffen uns langsam und stückweise am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen werden.

https://twitter.com/radioeins/status/1103151237543927810

Trotzdem werde ich natürlich nie aufhören, Kunerts Gedichte und Essays und Kurzgeschichten zu lesen. Heute wird dieser großartige Dichter 90 Jahre alt: unglaublich, aber wahr. Ad mea we-esrim!

Tschechien

Holocaust-Museum in ehemaliger Schindler-Fabrik eröffnet

Der Unternehmer Oskar Schindler rettete viele Juden vor den Nazis. Seine Rüstungsfabrik verlegte er 1944 von Krakau nach Brnenec im heutigen Tschechien. Nun ist dort ein Museum eröffnet worden

 12.05.2025

Basel

Drohgebärde bei ESC-Eröffnung – Kan erstattet Anzeige

Der Sender Kan veröffentlichte ein Video, auf dem ein Mann mit palästinensischer Flagge zu sehen ist, der sich mit seiner Hand waagerecht über den Hals fährt

 11.05.2025

Berlin

»Es gibt Momente, die sind größer als der Preis«

Die Verleihung des Deutschen Filmpreises war geprägt von politischen Statements – und von der Nachricht vom Tod Margot Friedländers. Und ganz nebenbei war »September 5« der große Gewinner des Abends

von Sabrina Szameitat  11.05.2025

Antisemitismus

Kanye Wests Hitler-Song »WW3« ist Hit auf Spotify

Der Text ist voller Hitler-Verehrung, gleichzeitig behauptet der Musiker, er könne kein Antisemit sein, weil er schwarz sei

 11.05.2025

Ruth Achlama

»Alles ist schön und gut? Das wäre gelogen«

Die Übersetzerin über Beziehungsratschläge für Deutsche und Israelis, israelische Autoren auf dem deutschen Buchmarkt und Erzählungen von Chaim Nachman Bialik

von Ayala Goldmann  11.05.2025

Meinung

Codewort: Heuchelei

Nemo fordert den Ausschluss Israels beim ESC in Basel. Damit schadet der Sieger des vergangenen Jahres der Schweiz und der eigenen Community

von Nicole Dreyfus  11.05.2025

Reaktionen

»Ihr Vermächtnis ist Mahnung und Verpflichtung«

Der Tod der Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer ist in Politik und Gesellschaft mit großer Trauer aufgenommen worden

 11.05.2025

Aufgegabelt

Dattelrollen

Rezepte und Leckeres

 11.05.2025

Eurovision Song Contest

Vorjahressieger Nemo gegen Teilnahme Israels am ESC

Für Israel tritt die Sängerin Yuval Raphael an, die die Terroranschläge auf Israel am 7. Oktober 2023 überlebte

 10.05.2025