Literatur

Ein Nachmittag mit Tomer Gardi

Der israelisch-deutsche Schriftsteller im Porträt

von Knut Elstermann  11.02.2022 09:01 Uhr

Tomer Gardi Foto: ORF

Der israelisch-deutsche Schriftsteller im Porträt

von Knut Elstermann  11.02.2022 09:01 Uhr

Mit den langen, lockigen Haaren an den Seiten seines sonst fast kahlen Hauptes, dem Dreitagebart, mit seinem bunten, weit geöffneten Hemd, der Kette, seinem strahlenden, herzlichen Lachen und der Lebendigkeit seines sprudelnden Redeflusses passt der Autor Tomer Gardi nicht so recht in den grauen Winter seiner Wahlheimat Berlin, sondern eher an den Strand von Tel Aviv. Wir sitzen in einer Kreuzberger Kneipe, die mit stampfender Disco-Musik der 80er beschallt wird.

Der Lärm zwingt uns, laut und mit Nachdruck zu reden. Literarische Gespräche klingen in der Regel anders, aber Tomer Gardis Bücher entziehen sich mit ihrer faszinierenden Regellosigkeit ohnehin jedem gesetzten, literarischen Diskurs. Einige Kritiker stehen ratlos vor diesem Werk, dessen Fangemeinde von Buch zu Buch wächst. Gardi ist einer der bekanntesten israelischen Autoren, er schreibt auf Deutsch und Hebräisch und dürfte in Deutschland inzwischen noch populärer als in seinem Geburtsland sein.

Mythen Ich bin nach dem Lesen seiner Bücher gespannt darauf, ob sein Sprechen die gleiche Farbigkeit, den gleichen originellen Wildwuchs wie sein Schreiben haben würde – und werde nicht enttäuscht. Es wäre fast schade, wenn er die deutsche Sprache irgendwann perfekt beherrschte, sage ich. Gardi meint lachend, er sei sich der Gefahr durchaus bewusst. Doch er weiß auch, dass die Eigenheit seiner Sprache, der gesprochenen und geschriebenen, nicht einfach aus falschen Fällen und abenteuerlichen Deklinationen erwächst.

Sie ist sein persönliches Handgepäck bei den Wanderungen durch eine fantastische Welt, in der Mythen, Legenden und Märchen auf die raue Gegenwart treffen. Diese Sprache ist offen und durchlässig und im besten Sinne antiautoritär. Im ersten Roman Broken German von 2016 fragt der Erzähler im unnachahmlichen Gardi-Sound: »Denn was ist ja eine Author ohne Authorität? Und was ist ein Author ohne sein Sprachherrschaft? Und was ist ein Herr ohne seine Herrschaft?«

Ein Autor, der wie Gardi, die allwissende Autorität des Erzählers unbekümmert in einem bunten, grammatikalischen und syntaktischen Strudel auflöst, übt keine Gewalt über seine Sprache aus, er will ein herrschaftsfreies Schreiben.

»Als Kind, zwischen dem zwölften und dem fünfzehnten Lebensjahr, wohnte ich mit meinen Eltern in Wien und besuchte eine amerikanische Schule. Dort wurde Englisch gesprochen, auf der Straße aber, beim Fußballspielen sprach ich mit den anderen Kindern Deutsch.«

Tomer Gardi wurde 1974 im Kibbuz Dan im Norden Israels in einer Familie mit ungarischen und rumänischen Wurzeln geboren. Er hat später Literatur- und Erziehungswissenschaft, unter anderem in Berlin studiert. Doch sein Deutsch lernte er nicht an den Universitäten, sondern auf der Straße, wie er mir erzählt: »Als Kind, zwischen dem zwölften und dem fünfzehnten Lebensjahr, wohnte ich mit meinen Eltern in Wien und besuchte eine amerikanische Schule. Dort wurde Englisch gesprochen, auf der Straße aber, beim Fußballspielen sprach ich mit den anderen Kindern Deutsch. Meine ersten Schritte in dieser Sprache ging ich also nicht durch Lesen und Schreiben, sondern durch Hören und Sprechen.«

Intifada Nach Berlin kam er 2004, während der zweiten Intifada. Er hatte in Jerusalem für eine Menschenrechtsorganisation gearbeitet und viele Kontakte zu Palästinensern in den besetzten Gebieten. Als sein Entschluss feststand, Israel zu verlassen, war eigentlich das sonnige Spanien sein Ziel. Doch vor der geplanten Ausreise, noch in Jerusalem, lernte er die Deutsche Mieke kennen. Sie verliebten sich und zogen nach Berlin. Zunächst ein Jahr lebten sie in Neukölln, wo das Paar auch jetzt wieder wohnt.

»Die Begegnungen in diesem Berliner Bezirk wurden für meine Literatur sehr wichtig«, erinnert sich Tomer. »Ich war schon vorher ein politischer Mensch, aber hier kam ich in sehr engen Kontakt mit Palästinensern, die im Norden Israels, wo ich aufwuchs, meine Nachbarn gewesen sein könnten. Ich erinnerte mich bei diesen Gesprächen mit den palästinensischen Menschen an ein Gerücht aus meiner Kindheit. Das große Museum für Natur und Geschichte in unserem Kibbuz Dan, das ich sehr gut kannte, soll aus den Steinen eines zerstörten arabischen Dorfes gebaut worden sein. Ich fand bei meinen Recherchen heraus, dass das Gerücht stimmte. Das Dorf hieß Hunin.«

Nichts im Museum erinnert an diese Vorgeschichte, nichts verweist auf die Palästinenser und ihre Vertreibung. »Das Haus verleugnet sein Baumaterial«, wie Tomer Gardi es ausdrückt. In den vergilbten Papieren der Archive fand er die Spur der Steine.

Neukölln Das Buch Stein, Papier: Eine Spurensuche in Galiläa schrieb Gardi auf Hebräisch in Tel Aviv, wohin er mit Mieke zwischenzeitlich gezogen war. Es erschien 2011 in Israel und 2013 in Deutschland. »Beim Schreiben habe ich für mich so etwas wie eine Brücke zwischen Israel und Neukölln gebaut, wohin wir im Dezember 2018 zurückkehrten. Ich lernte hier sogar zwei junge Palästinenser kennen, deren Familien aus genau jenem zerstörten Dorf stammen, aus Hunin.«

Stein, Papier ist eine genaue, historische Recherche, ein Sichtbarmachen des Verdrängten und zugleich eine hochartifizielle, experimentelle Textsammlung, die den Rahmen der Reportage sprengt, ein Schärfen der sprachlichen Instrumente, mit denen Gardi in seinen Romanen dann so souverän spielt, zum ersten Mal im Buch mit dem programmatischen Titel Broken German.

»Auf den Straßen der Stadt hört man sehr verschiedene Sorten von Deutsch, jeder spricht hier anders. So fühlte ich mich sofort wohl mit meinem fehlerhaften Deutsch, ich fiel mit diesem Akzent nicht weiter auf. Aus dem reichen, vielfältigen Sprachmaterial der Straßen wollte ich Bücher machen, um herauszufinden, was passiert, wenn man dieses Außenseiter-Deutsch als literarische Sprache nutzt«, beschreibt mir Gardi seinen Ansatz, mit dem er eine Kunstsprache erfand, die sich vom Standarddeutsch weit entfernt. Er erzählt im Roman vom jüdischen Radili und seinen Freunden Amadou, Fikret und Jamal, von Identitätstausch und Rollenspielen, vom Außenseiter-Leben der Geflüchteten in Berlin und entwickelt sogar eine veritable Krimihandlung, die sich natürlich den üblichen Ritualen des Ermittlungsromans entzieht.

»Meine Figuren nutzen, um durch ihr Leben zu kommen, den Humor und sie sprechen mit ihm Wahrheiten aus, die sonst vielleicht als zu direkt abgelehnt würden. Dieser Humor bleibt im Hals stecken.«

Tomer Gardi nennt sich selbst im Roman einen Arbeitsimmigranten in der deutschen Sprache. Beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt 2016 löste das Buch eine Debatte über die Zulässigkeit der permanenten Normverletzung aus. Dabei ist Gardis Sprache nicht nur das ideale, freie Medium für seine überbordende Fantasie, sondern auch ein schöner, eigenwilliger Beitrag zur heutigen deutschen Kultur, die mehr Vielfalt und spielerische Regelverstöße gut gebrauchen kann.

Komik Der Roman Broken German ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem deutschen Gedenken. Was bedeutet es, in dieser Stadt Berlin Jude zu sein, fragt der Erzähler, der sich zu Recherchezwecken ins Jüdische Museum einschließen lässt. Ist man dann als Jude in diesem Museum automatisch ein Ausstellungsobjekt, ein lebendes Monument für das, was die Deutschen nicht zu Ende gebracht haben? Das Hinterfragen der jüdischen Opferrolle in der offiziellen deutschen Erinnerungskultur führt bei Gardi zu surrealen Gedankenexperimenten wie dem Juden im Jüdischen Museum, zu einer geradezu absurden Komik, die immer aus der Wirklichkeit erwächst.

»Meine Figuren nutzen, um durch ihr Leben zu kommen, den Humor und sie sprechen mit ihm Wahrheiten aus, die sonst vielleicht als zu direkt abgelehnt würden. Dieser Humor bleibt im Hals stecken. Er ist auch meine Überlebensstrategie, Lachen hilft immer. Ich kann nicht anders. Ich beobachte und erfahre sehr viel in der Wirklichkeit, ich versuche immer, hellwach zu sein, so komme ich an meine Geschichten.«

Genau dieses Verfahren wendet er auch in seinem zweiten Roman von 2019 an. Sonst kriegen Sie Ihr Geld zurück, auf Hebräisch in Tel Aviv geschrieben, ein aberwitziges Buch wie ein modernes »Tausendundeine Nacht«, das auf Gardis typische Weise weit entlegene Dinge zusammenbringt. Ein Schriftsteller beantragt im Arbeitsamt finanzielle Unterstützung, verwandelt sich kurzerhand in eine Frau, in eine Scheherazade der neoliberalen Zeiten, und erzählt dem Beamten fantasievolle, nie endende Geschichten, um ihn bei der Stange zu halten und an das Geld zu kommen. Sie kleidet ihre realen, harten, sozialen Erfahrungen, die der Autor übrigens zu der Zeit durchaus teilte, in märchenhafte Kostüme.

So springt auch Gardis Fantasie an, indem sie die Realität in eine mythische Welt überführt, meint er, und damit sind wir schon bei seinem jüngsten Buch angelangt, dem Roman Eine runde Sache, der 2021 erschienen ist. Ich bedaure etwas, dass sich unser Gespräch dem Ende nähert, denn es ist so anregend und assoziativ wie die Lektüre seiner Bücher. Man hat das Gefühl, dass ihm beim Sprechen in jedem Augenblick unzählige neue Ideen durch den Kopf schießen, eine barocke Überfülle, aus der er jederzeit schöpfen, auf die er sich produktiv verlassen kann.

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Eine runde Sache ist auf den ersten Blick überhaupt kein runder Roman, er besteht aus zwei unabhängigen Texten. Im ersten Teil bricht der Erzähler, der das gebrochene Gardi-Deutsch spricht, zu einer fantastischen Reise in einen Grimmschen Märchenwald auf, begleitet vom einem Wolf und dem Erlkönig, um am Ende wieder an den Ausgangspunkt zurückzukehren. Es ist eine Wanderung durch das düstere Gestrüpp deutscher Mythen und Legenden, eine groteske, sehr komische Meditation über das Wesen der Wahrheit, die sich in der gelungenen Erfindung offenbart oder wie es im Roman heißt: »Eine überzeugende Lüge muss ja im Grunde genommen ähnliche Eigenschaften haben wie eine überzeugende Wahrheit«.

Lebensrundungen Der zweite Teil wurde auf Hebräisch geschrieben und mustergültig von Anne Birkenhauer ins Deutsche übersetzt. Gardi erzählt faktengetreu die reale und erstaunliche Biografie des indonesischen Malers Raden Saleh aus dem 19. Jahrhundert. Sein erfolgreicher Lebensweg führte von Java, über Antwerpen, Den Haag, Dresden, Paris und wieder zurück nach Java. Bei genauem Hinsehen spiegeln sich beide Romanteile, sie beziehen sich aufeinander. Es geht beide Male um das Verlassen und Heimkehren, um die Rückkehr nach einer inneren Wandlung, um Lebensrundungen.

Ich musste beim Lesen auch dieses Gardi-Buches manchmal an den genialen argentinischen Autor César Aira denken, der seit Jahrzehnten unzählige kleine Romane veröffentlicht, jeder eigensinnig und völlig anders als der Vorgänger, nur der eigenen Logik folgend. Gardi gefällt der Vergleich mit dem vom ihm sehr geschätzten Autor. Auch er sieht sich in einem Dauerzustand des Übergangs, der ständigen Wandlung wie er mir am Ende unseres Gesprächs sagt: »Mit jedem Buch, mit jedem Projekt treffe ich neue Entscheidungen über meine Identität, das spiegelt sich auch im ständigen Wechsel zwischen Hebräisch und Deutsch wider. Es ist immer ein neuer Anfang. Manchmal empfinde ich das als hart, denn eigentlich wüsste ich ganz gern, wer ich bin. Mich wundert, dass ich von den Kritikern immer eindeutig als israelischer Autor bezeichnet werde, dabei ist zum Beispiel Eine runde Sache weder ein israelisches noch ein deutsches Buch. Es ist ein Werk der Diaspora.«

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