Lyrik

Ein liebender Mann

In seinem Tagebuch 1944, das vor einigen Jahren überraschend zum Weltbestseller wurde und ein ebenso ergreifendes wie seltenes Zeitdokument darstellt, schrieb Hans Keilson über die Erfahrung des Untertauchens, die Angst vor der Zukunft und die tägliche Bedrohung. Doch bereits in diesen im holländischen Exil verfassten Aufzeichnungen klingen immer wieder Keilsons zunehmende Entfremdung von Frau und Kind sowie der Beginn einer heimlichen Liebe an.

Keilson, der als Jude 1936 aus Deutschland fliehen musste, überlebte den Krieg in Holland mit gefälschtem Pass und teilweise im Versteck. Während dieser Zeit des Untertauchens verliebte sich der Arzt und Schriftsteller in die junge Hanna Sanders – und schrieb parallel zur Niederschrift seines Tagebuchs 46 Sonette, die nun erstmals veröffentlicht werden. Ein Novum in seinem Werk: Die Gedichte des 1909 in Bad Freienwalde an der Oder geborenen Keilson zeigen ihn von seiner ganz und gar persönlichen Seite.

intim Die Sonette für Hanna sind ein intimes Dokument ersten Ranges, aber auch ein außergewöhnliches historisches Zeugnis davon, mit welcher Macht das Klima von Verfolgung und Willkür auch die privatesten Bereiche der Existenz durchdringt. Sie dokumentieren die grausamen Umstände von Krieg und Verfolgung und zeigen eindrücklich, wie das Nachdenken über Liebe in der Dichtung ihren Widerhall findet.

Präzise und einfühlsam von dem Lyriker Jos Versteegen aus dem Deutschen ins Niederländische übersetzt, zeigen die Gedichte den Menschen Keilson: Hier leidet und schreibt ein junger Mann, der seine Eltern in Auschwitz-Birkenau verloren hat, ein Mann, der sich vor der Welt verstecken muss, weil er Jude ist. Vor allem aber ein Mensch, der sich als Dichter und Arzt einem undogmatisch-humanistischen Lebensideal verpflichtet fühlt, jedoch am eigenen Unvermögen leidet, sich zwischen zwei ihn liebenden Frauen zu entscheiden.

Die zweisprachige Ausgabe zeigt zudem einen Mann, dem die Trauer näher ist als der Hass, einen Mann, dem Kierkegaard näher steht als irgendwer sonst. Der es aber fertig bringt, in den geistigen Kategorien eines Stefan George ebenso zu Hause zu sein wie im Werk eines literarischen Berserkers wie Louis-Ferdinand Céline.

verantwortlich Hans Keilson gehörte nicht zu jenen, die noch am Zweifel zweifelten. Er fühlte sich verantwortlich, im Privaten wie im Umgang mit den ihm zum Schutz anvertrauten Menschen. Er denkt in diesen bitteren Wochen des viel zu langsam zu Ende gehenden Zweiten Weltkrieges immer wieder an das Schicksal seiner Frau und ihres Kindes. Was ihn nicht daran hindert, seiner Liebesbedürftigkeit weiten Raum zu geben. »Was ist Liebe?«, fragt er in einem der Sonette.

Nach dem Krieg arbeitete Keilson bei Le Ezrat HaJeled, der jüdischen Hilfsorganisation für jüdische Waisenkinder. Und von da an geht es für ihn um die Frage, wie er seine beiden Berufungen, die des Arztes und des Psychoanalytikers, mit seinen literarischen Ambitionen verbinden kann.

Hier hielt er sich auch an den Titel seines Romandebüts aus dem Jahr 1933, das letzte Buch eines jüdischen Schriftstellers, das noch im S. Fischer Verlag publiziert werden konnte und wenig später von den Nationalsozialisten auf den Index gestellt und schließlich verbrannt wurde: Das Leben geht weiter.

Hans Keilson: »Sonette für Hanna«. Herausgegeben von Marita Keilson-Lauritz und Jos Versteegen. S. Fischer, Frankfurt 2016, 224 S., 24 €

Aufgegabelt

Plätzchen mit Halva

Rezepte und Leckeres

 05.12.2025

Kulturkolumne

Bestseller sind Zeitverschwendung

Meine Lektüre-Empfehlung: Lesen Sie lieber Thomas Mann als Florian Illies!

von Ayala Goldmann  05.12.2025

TV-Tipp

»Eigentlich besitzen sie eine Katzenfarm« - Arte-Doku blickt zurück auf das Filmschaffen von Joel und Ethan Coen

Die Coen-Brüder haben das US-Kino geprägt und mit vielen Stars zusammengearbeitet. Eine Dokumentation versucht nun, das Geheimnis ihres Erfolges zu entschlüsseln - und stößt vor allem auf interessante Frauen

von Manfred Riepe  05.12.2025

Köln

Andrea Kiewel fürchtete in Israel um ihr Leben

Während des Krieges zwischen dem Iran und Israel saß Andrea Kiewel in Tel Aviv fest und verpasste ihr 25. Jubiläum beim »ZDF-Fernsehgarten«. Nun sprach sie darüber, wie sie diese Zeit erlebte

 05.12.2025

Genf

Entscheidung gefällt: Israel bleibt im Eurovision Song Contest

Eine Mehrheit der 56 Mitgliedsländer in der European Broadcasting Union stellte sich am Donnerstag gegen den Ausschluss Israels. Nun wollen Länder wie Irland, Spanien und die Niederlande den Musikwettbewerb boykottieren

von Michael Thaidigsmann  04.12.2025

Medien

»Die Kritik trifft mich, entbehrt aber jeder Grundlage«

Sophie von der Tann schwieg bislang zur scharfen Kritik. Doch jetzt reagiert die ARD-Journalistin auf die Vorwürfe

 04.12.2025

Antisemitismus

Schlechtes Zeugnis für deutsche Schulen

Rapper Ben Salomo schreibt über seine Erfahrungen mit judenfeindlichen Einstellungen im Bildungsbereich

von Eva M. Grünewald  04.12.2025

Literatur

Königin Esther beim Mossad

John Irvings neuer Roman dreht sich um eine Jüdin mit komplexer Geschichte

von Alexander Kluy  04.12.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Katrin Richter, Imanuel Marcus  04.12.2025