Viele Schrammen und eine angeraute Oberfläche zeigen, dass die beiden Kännchen schon mehrere Jahrzehnte alt sind und viel durchgemacht haben. In den vergangenen Jahren hat die Malerin und Performancekünstlerin Rose Schulze sie gelegentlich zu einem Stillleben aufgebaut, das sie von ihren Schülern auf Papier und Leinwand abmalen ließ.
Doch irgendwann packte die 68-Jährige die Kännchen in eine Kiste und schrieb »Stillleben« darauf. Mit anderen Gefäßen kamen das Sahne- und das Kaffeekännchen in den Keller ihres Sommerhauses – und gerieten so in Vergessenheit.
Die Künstlerin, die auch Inhaberin der Kunstschule Panketal ist, widmet sich derzeit verstärkt dem Thema »Was von uns bleibt«. So geht sie beispielsweise auf Mülldeponien und sammelt alte, wertlose Gegenstände wie Löffel, Schuhe oder Kochlöffel ein und gestaltet damit Collagen. »Schrott in Papier geschöpft« nennt sie es. Auch sie macht sich Gedanken, was von ihr bleibt – neben der Kunst –, und fing an, ihr Haus aufzuräumen und ihren eigenen Nachlass zu betrachten. Dabei stieß sie auf die Kiste mit den beiden Kännchen – außen sind sie versilbert, innen vergoldet.
JAHRHUNDERTWENDE Doch obwohl sie so lange in ihrem Besitz waren, kam sie jetzt erst auf die Idee, sie genauer anzuschauen. Dabei sprang ihr der Name »Conditorei Moritz Dobrin« ins Auge, der auf der Unterseite eingraviert ist. Wer diesen Namen googelt, wird rasch fündig. So auch Rose Schulze.
In Dobrins Café am Spittelmarkt gab es den ersten Espresso der Stadt.
Moritz (1872–1951) und sein Bruder Isidor Dobrin (1876–1943) führten vor der Schoa zahlreiche Konditoreien und Kaffeehäuser in Berlin, die stadtbekannt waren. In Danzig hatte Moritz Dobrin das Konditoreihandwerk gelernt, dann zog er nach Berlin, um dort Ende des 19. Jahrhunderts seine erste Konditorei zu eröffnen.
Erster Weltkrieg Dann kam der Erste Weltkrieg, in dem er als Soldat kämpfte. Doch nach dem Krieg schaffte er es, drei Konditoreien und Cafés in bester Lage zu eröffnen. Eines am Spittelmarkt – in dem es den ersten Espresso in der Stadt gab –, eines in der Friedrichstraße 114, in dessen Räumen sich heute ein Restaurant der »Subway«-Kette befindet, sowie eines am Kurfürstendamm, wo einst das Kempinski-Hotel stand.
Im Laufe der Zeit hatte Moritz Dobrin schließlich fünf Cafés in Berlin.
Im Laufe der Zeit eröffnete Moritz noch vier weitere, sein Bruder Isidor führte jeweils eines in der Jerusalemer Straße 16 und an der Spandauer Brücke. Sie galten als noble Adressen. Postkarten, die man heute im Netz finden kann, zeigen die Angestellten, wie sie die vielen Kuchen präsentieren, tagsüber anscheinend in weißer Arbeitskleidung, abends in schwarzer. Auf einigen ist das Jugendstil-Inventar mitsamt riesigen Kronleuchtern zu erkennen, und manche halten die Außenansicht der Häuser fest. Ein Druck mit dem Firmenlogo ist im Jüdischen Museum Berlin archiviert.
POGROMNACHT Die Brüder waren in der Jüdischen Gemeinde aktiv, gehörten zu den Gründungsmitgliedern der Synagoge Grunewald und waren Vorstandsmitglieder des Jüdischen Altersheims in der Berkaer Straße in Grunewald. In der Hagenstraße besaß der dreifache Vater Moritz Dobrin eine Villa, in der er mit seiner Frau Helene lebte, bis in der Pogromnacht ihre Konditoreien zerstört wurden und ihnen anschließend ihr Vermögen entzogen wurde, wie man auf der Website »Stolpersteine in Berlin« erfährt. In der Hagenstraße wurden die Stolpersteine 2014 der Öffentlichkeit übergeben.
»Nach einem Einkaufsbummel … kehrte man bei Dobrin ein.«
Marie Jalowicz Simon
Helene und Moritz Dobrin zogen zu Isidor und dessen Frau in die Königsallee. Die Konditoreien gab es teilweise noch während der Schoa, dort durften aber nur Juden einkaufen. So schrieb Marie Jalowicz Simon in ihrer Biografie Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940 bis 1945: »Einst hatte das Café zu den noblen Adressen in Berlin gezählt. Nach einem Einkaufsbummel … kehrte man bei Dobrin ein. Eine nicht so feine Filiale am Hackeschen Markt existierte noch, wobei die Gäste jetzt ausschließlich Juden waren.«
GEHEIMTRANSPORT 1942 wurde das Paar – ihre Kinder konnten noch rechtzeitig emigrieren – vom Bahnhof Grunewald ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Dort konnte Moritz als Bäcker arbeiten, seine Frau hingegen kam 1944 ums Leben. Moritz gelangte mit einem Geheimtransport am 2. Februar 1945 in die Schweiz und ging später zu seinem Sohn Max nach London, wie man bei der Stolperstein-Ini-tiative erfährt.
Moritz Dobrin überlebte die Schoa und ging nach London.
Rose Schulze hat ihre Erfahrungen mit den Kännchen gemacht und sich einmal beinahe ihre Finger an dem Griff verbrannt. »Vermutlich war da früher Bast herumgewickelt«, sagt sie. Denn der Henkel wird heiß. Aber wenn sie die Geschichte erzählt, wie die Kännchen in ihren Besitz kamen, hört sie sich vergnügt an. Sie vermutet, dass sie ihr von der Puppenspielerin Ilse Iwowsky vererbt wurden, die mit ihrem Mann Carl ein Marionettentheater im alten Scheunenviertel hatte.
Als die Bühne Ende der 50er-Jahre geschlossen wurde, zog das Paar nach Zepernick, wo Rose Schulze als Kind ebenfalls wohnte. Sie besuchte die Vorstellungen des kleinen Theaters, das das Paar dort führte. »Aber so viele Zuschauer gab es langfristig gar nicht.« 1970 starb Carl, 20 Jahre später ging Ilse in den Westen und schenkte Rose – die beiden Frauen hatten sich mittlerweile gut angefreundet – mehrere Kisten mit Büchern und eben den Kännchen. Es sind schöne Erinnerungen für Rose Schulze, die in den Kisten auch viele Motive zum Zeichnen fand.
URENKELIN Doch sie beschloss ziemlich rasch, dass sie Sahne- und Kaffeekännchen den Nachfahren zurückgeben möchte, und schrieb sie auf Facebook an. Keine Reaktion. Dennoch packte sie die Kännchen in ein Paket, erfuhr über die Stolperstein-Initiative Charlottenburg-Wilmersdorf die Adresse und schickte sie nach London. Als nach zwei bis drei Wochen immer noch keine Rückmeldung kam, machte sie sich schon Sorgen, ob das Päckchen verloren gegangen sei.
Doch dann kam ein Lebenszeichen von der Familie mitsamt einem Foto der jüngsten Tochter von Josie Dobrin, die die Kännchen in der Hand hält und sich freut. »Ich habe sie dann gewarnt, dass der Henkel heiß wird.« Die Urenkelin Josie Dobrin bedankte sich und schrieb, dass es ihr viel bedeutet.
Vor ein paar Jahren bekam die Familie schon einen Zuckerlöffel, ebenfalls aus der Konditorei Moritz Dobrin, überreicht, den eine andere Familie bei sich gefunden hatte und den Erben wiedergeben wollte, was bei einer Stolperstein-Verlegung auch geschah. Die Angehörigen kamen extra aus London und Jerusalem. Die Zeitungen titelten damals »Konditorei Dobrin – einzig geblieben ist ein Löffel«.
Nun sind es zwei Kännchen und ein Zuckerlöffel.