Propaganda

Ein jüdischer Krieg?

Im Krieg zerstörtes Haus in der ostukrainischen Stadt Horliwka nördlich von Donezk Foto: imago images/SNA

Im Morgengrauen des 24. Februar 2022 begannen russische Truppen mit dem Einmarsch in die Ukraine. Nach alter sowjetischer Tradition der euphemistischen Phrase, der schon Stalin nicht abgeneigt war, wurde der Krieg nicht als solcher, sondern als »besondere Militäroperation« bezeichnet, die angeblich nicht darauf abzielte, die Ukraine zu besetzen, sondern das Ziel hätte, die Menschen im Donbass vor einem »Genozid« zu schützen, das Land zu »demilitarisieren« und zu »entnazifizieren«.

Die Mär von einem »Nazi-Regime« in der Ukraine spukt seit der Maidan-Revolution von 2014 durch die russische Presse, das Staatsfernsehen sowie vor allem durch die sozialen Netzwerke. Die pro-westlichen Präsidenten und Regierungen in Kiew seien »faschistisch« und zielten darauf ab, die russische Kultur, Sprache und letztlich die Russen selbst in der Ukraine zu vernichten, heißt es.

Die Mär vom »Nazi-Regime« spukt seit der Maidan-Revolution in der Ukraine durch die Presse.

Dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj jüdischer Herkunft und seine Muttersprache Russisch ist, dass er von Beruf russischsprachiger Schauspieler und Regisseur war und als solcher im ukrainischen (sic!) Fernsehen populär wurde, wird dabei negiert.

FEINDBILD Widersprüche überwindet man am besten dadurch, dass man sie nicht leugnet, sondern in die eigene Ideologie und Propagandamaschinerie integriert. Ist man wie viele Russen antiwestlich, antifaschistisch, aber auch antisemitisch eingestellt, kreiert man rasch ein postmodern-hybrides Feindbild – die »faschistische jüdische Junta«, welche angeblich die Ukraine seit 2014 beherrscht.

Dieses »Nazi-Regime« verkörpert in sich alles, was man ablehnt: Es besteht aus Rechtsradikalen, weil es die Verehrung eines ukrainischen »Nationalhelden«, des »Freiheitskämpfers« und zeitweiligen Nazi-Kollaborateurs Stepan Bandera (1909–1959), im eigenen Land duldet, es ist jüdisch, weil einzelne politische Führer jüdischer Herkunft sind (und jenen, die es nicht sind, wird die jüdische Herkunft einfach unterstellt). Der Westen, dem sich die Ukraine annähern wollte, wird ohnehin sowohl mit dem Faschismus als auch mit »jüdischer Dominanz in der Welt« in Verbindung gebracht.

Der Konflikt zwischen dem russischen Präsidenten Putin und der Ukraine hat in Wirklichkeit weder etwas mit Nazis noch mit dem Judentum zu tun. Vielmehr geht es um Putins imperialistische Politik, um den Versuch, Russland in alter Größe und Bedeutung der ehemaligen Sowjetunion wiederherzustellen und die Ukraine, das »Kernland des Ostslawentums«, wieder der Einflusssphäre Moskaus einzuverleiben.

AKTEURE Juden spielen in diesem Konflikt als Akteure auf beiden Seiten sehr wohl eine Rolle. Oftmals stehen sie einander als erbitterte Gegner gegenüber. Sie sind Politiker (neben dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj zum Beispiel auch der einstige Ministerpräsident Wolodymyr Hrojsman), Oligarchen, Kulturschaffende, Journalisten und Intellektuelle, doch sind sie das allesamt in ihrer Eigenschaft als Ukrainer oder Russen, als Parteigänger bestimmter Gruppierungen und Personen oder als Vertreter von Ideologien, aber nicht als Juden.

Es gibt keine »jüdische Haltung« zu diesem Krieg, weil dies kein jüdischer Krieg ist, und doch wird er auf beiden Seiten – vor allem auf russischer Seite – zumindest teilweise als solcher gesehen oder in der jeweiligen Propaganda als solcher »verkauft«.

Einer der Gründe für diese Entwicklung ist, dass es in der ukrainischen Gesellschaft bislang kaum zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte gekommen ist. Die wichtigsten »Helden« der ukrainischen Nation, ob nun der Kosakenführer Bohdan Chmelnyzkyj (1595–1657), der Revolutionär Symon Petljura (1879–1926) oder der schon erwähnte Nazi-Kollaborateur Bandera haben Judenpogrome initiiert oder zumindest geduldet.

In Russland gehen heute mutige Bürger auf die Straße, um gegen den Krieg zu demonstrieren.

Der große ukrainische Schriftsteller Iwan Franko (1856–1916), nach dem heute sogar eine Stadt in der Westukraine benannt ist, war genauso ein Antisemit wie der gebürtige Ukrainer Nikolai Gogol (1809–1852), ein Klassiker der russischen Literatur. Vor der Schoa war die Ukraine ein Zentrum jüdischen Lebens. Die jüdische Minderheit war bei vielen Ukrainern jedoch verhasst, manche kollaborierten mit den Nazis und verdingten sich bei ihnen als KZ-Aufseher und Massenmörder. Das alles wird offiziell nicht geleugnet, aber es wird oft verdrängt oder relativiert.

RECHTSRADIKALE In den letzten Jahren stellten rechtsradikale Gruppierungen, die bei Wahlen insgesamt stets weniger als zwei Prozent der Stimmen erhielten, paramilitärische Verbände auf. Ihre Anhänger marschierten lautstark, oftmals auch gewalttätig durch ukrainische Städte. Für Putins Regime war das ein Geschenk. Für seine Propaganda ist die Ukraine ein Nazi-Land, das von Juden regiert wird. Das einzig Positive ist, dass im Unterschied zu den Jahren 2014/15 immer weniger Menschen in Russland solch abstrusen Behauptungen noch Glauben schenken.

Während in der Ukraine immer mehr Zivilisten und Soldaten getötet werden, gehen in Russland mutige Bürger auf die Straße, um gegen den Krieg und den Gewaltherrscher im Kreml zu demonstrieren. Von Juden oder Nazis ist dabei längst keine Rede mehr.

Der Autor wurde 1966 in Leningrad geboren und emigrierte 1971 mit seiner Familie aus der Sowjetunion. Er lebt als Schriftsteller in Österreich. Soeben erschien sein neues Buch »Zebra im Krieg. Roman nach einer wahren Begebenheit«.

Meinung

Gratulation!

Warum die Ehrung der ARD-Israelkorrespondentin Sophie von der Tann mit dem renommierten Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis nicht nur grundfalsch, sondern auch aberwitzig ist

von Lorenz Beckhardt  02.12.2025 Aktualisiert

TV-Kritik

Allzu glatt

»Denken ist gefährlich«, so heißt eine neue Doku über Hannah Arendt auf Deutsch. Aber Fernsehen, könnte man ergänzen, macht es bequem - zu bequem. Der Film erklärt mehr als dass er zu begeistern vermag

von Ulrich Kriest  02.12.2025

Streaming

Gepflegter Eskapismus

In der Serie »Call my Agent Berlin« nimmt sich die Filmbranche selbst auf die Schippe – mit prominenter Besetzung

von Katrin Richter  02.12.2025

Jean Radvanyi

»Anna Seghers war für mich ›Tschibi‹«

Ein Gespräch mit dem Historiker über die Liebesbriefe seiner Großeltern, Kosenamen und hochaktuelle Texte

von Katrin Richter  02.12.2025

TV-Kritik

Politisierende Ermittlungen

In »Schattenmord: Unter Feinden« muss eine arabisch-stämmige Polizistin den Mord an einem jüdischen Juristen aufklären

von Marco Krefting  02.12.2025

Kommentar

Schiedsgerichte sind nur ein erster Schritt

Am 1. Dezember startet die Schiedsgerichtsbarkeit NS-Raubkunst. Doch es braucht eine gesetzliche Regelung auch für Werke in Privatbesitz, meint unser Gastautor

von Rüdiger Mahlo  01.12.2025

Rache

»Trigger-Thema« für Juden

Ein Filmseminar der Jüdischen Akademie untersuchte das Thema Vergeltung als kulturelle Inszenierung

von Raquel Erdtmann  01.12.2025

Wuppertal

Schmidt-Rottluff-Gemälde bleibt in Von der Heydt-Museum

»Zwei Frauen (Frauen im Grünen)« von Karl Schmidt-Rottluff kann im Von der Heydt Museum in Wuppertal bleiben. Nach Rückgabe an die Erbin erwarb die Stadt das Bild von ihr. Vorausgegangen waren intensive Recherchen zur Herkunft

 01.12.2025

Dorset

»Shakespeare In Love« - Dramatiker Tom Stoppard gestorben

Der jüdische Oscar-Preisträger war ein Meister der intellektuellen Komödie. Er wurde 88 Jahre alt

von Patricia Bartos  01.12.2025