Roman

Ein Fall für Rappaport

Andere Autoren hätten einen Kriminalroman aus dem Stoff gemacht. Die Wahlpariserin Gila Lustiger will – und erreicht – mehr: Ihr neues Buch Die Schuld der anderen ist ein großer Gesellschaftsroman. Es geht um den Mord an der blutjungen Prostituierten Emilie, einen von drei seit 27 Jahren unaufgeklärten Fällen.

Lustiger überlässt die Aufklärung und Auflösung der spannenden, sich über drei Jahrzehnte erstreckenden Handlung nicht der Polizei, sondern dem hartnäckig bohrenden Journalisten Marc Rappaport. Er ist der Enkel eines steinreichen jüdischen Geschäftsmanns in Paris, wollte aber nicht die Nachfolge in der Führung des Konzerns antreten, als der Großvater bei einem Autounfall ums Leben kommt. Marc ist Journalist aus Leidenschaft, schreibt für eine von seinem Freund Pierre geleitete einflussreiche Zeitung Reportagen, klärt manchen politisch-gesellschaftlichen Skandal auf.

gift Aufgrund der zufällig vorliegenden Ergebnisse einer DNA-Analyse ordnet die Polizei alle Morde einem einzigen Täter zu. Marc glaubt nicht an diesen Zusammenhang und fängt an, in der Vergangenheit zu recherchieren. Er forscht in der Provinz nach, in der Kleinstadt, aus der die Ermordete stammt, aus der sie nach dem Abitur zum Geschichtsstudium nach Paris aufgebrochen war und sich einem Gewerbe verschrieb, dessen Milieu Marc ebenfalls erkundet.

Der ganze Roman ist der Parforceritt eines schnell begreifenden Journalisten, der vor Rätseln nicht kapituliert, der ein begnadeter Fragensteller ist, dem sich dank seines Selbstbewusstseins und seines Charmes Türen öffnen. Sein Tempo, seine Leidenschaft übertragen sich auf den Leser. Zwischendurch lädt Gila Lustiger ihre Leser zu diskreten und immer appetitlichen Blicken auf das durch die Reportertätigkeit gelegentlich gestörte Liebesleben zwischen Marc und seiner hinreißenden Freundin Deborah ein.

Das Ergebnis von Marcs sich über Wochen erstreckenden Nachforschungen ist die Aufdeckung eines kriminellen Industrieskandals, in dessen Folge 38 vergiftete Arbeiter an Nierenkrebs erkrankt sind. Weil der Journalist sich – als ziemlich Einziger – auf deren Seite stellt, können sie endlich die ihnen lange verweigerte Entschädigung erzwingen.

Wie nebenbei entlarvt Marc die Bestechlichkeit hoher Politiker, das Funktionieren der »herrschenden Klasse« zulasten der einfachen Menschen. Das ist kultivierte Spannungsliteratur, Gesellschaftskritik auf hohem literarischen Niveau, eine Panoramaschau auf die französischen Verhältnisse. Ein Seitenblick, der aktueller nicht sein kann, fällt auf das Leben wohlhabender Juden in Paris und ihre Ängste, ein Milieu, das die Autorin gut kennt.

konzern Am Ende landet Marc wieder bei seiner Familie, bei seinem geliebten Großvater, der seinen Konzern auch nicht als Säulenheiliger geschmiedet hatte. So funktioniert eben die Welt des großen Geldes und der großen Politik, nicht nur in Frankreich, aber dort eben auf besondere Weise. Ein junges Mädchen hatte sich diesem Lauf der Welt entgegengestellt und musste deshalb sterben. Ein Journalist deckt das auf. Er begegnet Menschen und Unmenschen, die die Autorin – manchmal mit schnellen Strichen, manchmal über eine längere Entwicklung – plastisch zeichnet. Der Leser wird unterhalten und nachdenklich gestimmt. Die Schuld der anderen ist spannender als die meisten Krimis, literarischer als viele Preisträger-Romane, kritischer als alle Ideologen.

Gila Lustiger: »Die Schuld der anderen«. Berlin Verlag, Berlin 2015, 494 S., 22,99 €

Kolumne

Von der Verheißung zum Manöver

»Sapad«, das russische Wort für Westen – Geschichte eines Bedeutungswandels vom Vorbild zum Feindbild

von Eugen El  21.05.2025

«Märzenschnee»

Auktion mit Pechstein-Gemälde aus Besitz von Walter Rathenau

Als Walter Rathenau 1909 eine Ausstellung besuchte, kaufte er ein Gemälde: »Märzenschnee« von Max Pechstein. Nun wird das Bild versteigert, das eine interessante Geschichte hat

 21.05.2025

Konzert

Nani Vazana ehrt Nina Simone in Frankfurt

Die israelisch-niederländische Sängerin ist auch für Songs auf Ladino, der Sprache ihrer sephardischen Vorfahren, bekannt

 21.05.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 22. Mai bis zum 29. Mai

 21.05.2025

Sachbuch

Studierende und die deutsch-israelische Diplomatie: »Reparationen kein Ersatz für Anerkennung«

In diesem Jahr wird die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Israel vor 60 Jahren gefeiert. Die Entwicklung hatte Vorläufer auch an Universitäten, wie ein neues Buch zeigt

von Leticia Witte  21.05.2025

Studie

Nur geringes Vertrauen in Nahost-Berichterstattung

Lediglich 27 Prozent der Befragten gaben in einer Studie an, sie würden den Berichten über Israel und Gaza »voll und ganz« oder überwiegend vertrauen

 21.05.2025

Zahl der Woche

0,794 Prozent

Fun Facts und Wissenswertes

 21.05.2025

Literatur

»Ginsterburg«: Arno Frank über eine Kleinstadt zur NS-Zeit

Der Roman fokussiert sich auf die Jahre 1935, 1940 und 1945. In dieser Zeit verändert sich das Leben der Menschen in einer fiktiven deutschen Kleinstadt grundlegend

von Sibylle Peine  21.05.2025

München/Oswiecim

Leon Kahane warnt vor einer gedankenlosen Gedenkkultur

Gewalt als Garant für Tiefe? Ein Künstler sieht das kritisch. Werke über Auschwitz seien möglich, müssten aber behutsam entstehen: Sonst drohe das Gedenken zur hohlen Geste zu werden

von Paula Konersmann  21.05.2025