Nachruf

Ein deutsches Leben

Günter Grass (1927–2015) Foto: dpa

Günter Grass, der am Montag 87-jährig gestorben ist, war ein grandioser Schriftsteller, der in seinen Romanen, vor allem der 1959 erschienenen Blechtrommel, eine für deutsche Gegenwartsliteraten rare Fähigkeit zum Geschichtenerzählen ohne Innerlichkeitsabschweifungen bewies. Dafür wurde er 1999 zu Recht mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.

Doch Grass wollte stets mehr sein als ein bloßer Literat. Er verstand sich – und wurde von der bundesdeutschen Öffentlichkeit so auch angenommen – als politischer Intellektueller, mehr noch, als moralische Instanz. In dieser Rolle aber scheiterte er an sich selbst.

Verdrängung Angetreten als Repräsentant eines neuen Nachkriegsdeutschlands, das sich in bewusster Absetzung zu der NS-kontaminierten Vätergeneration definierte, engagierte Grass sich in den 60er-Jahren an vorderster Stelle gegen die Verdrängung der Nazi-Verbrechen, für Aussöhnung mit Osteuropa und, ja, für die Unterstützung Israels. Er war der erste deutsche Schriftsteller, der offiziell in den jüdischen Staat eingeladen wurde. Ein Foto zeigt ihn 1967 in Bonn als Redner bei einer Kundgebung für Israel im Sechstagekrieg. Das war der (relativ) junge Günter Grass.

Der alte Grass sang andere Töne. Unvergessen – wenn auch nicht seiner literarischen Meriten wegen – bleibt das »israelkritische« Gedicht »Was gesagt werden muss« 2012, in dem er unter Rückgriff auf antisemitische Topoi den Staat der Juden zur Hauptgefahr für den Weltfrieden denunzierte. Israel, so Grass, plane einen nuklearen Erstschlag gegen den Iran, an dessen Ende »als Überlebende wir allenfalls Fußnoten sind«.

waffen-ss Davor lag 2006 Grass’ spätes Eingeständnis seiner Zugehörigkeit zur Waffen-SS – durch ebendenselben Günter Grass, der jahrzehntelang sein politisches Engagement mit der Abscheu vor der verdrängten NS-Vergangenheit führender Repräsentanten der Bundesrepublik begründet hatte.

Im Alter fand der Schriftsteller mit 50-jähriger Verspätung zurück in den von ihm einst vehement bekämpften politischen Mainstream der 50er- und 60er-Jahre, der die Deutschen zu den eigentlichen Opfern des Zweiten Weltkriegs stilisiert hatte.

Lesen Sie den vollständigen Artikel in unserer Printausgabe am Donnerstag.

Musik

»Piano Man« verlässt die Bühne: Letztes Billy-Joel-Konzert

Eine Ära geht zuende: Billy Joel spielt nach zehn Jahren vorerst das letzte Mal »Piano Man« im New Yorker Madison Square Garden. Zum Abschied kam ein Überraschungsgast.

von Benno Schwinghammer  26.07.2024

Zahl der Woche

16 Sportarten

Fun Facts und Wissenswertes

 26.07.2024

Lesen!

Ein gehörloser Junge und die Soldaten

Ilya Kaminsky wurde in Odessa geboren. In »Republik der Taubheit« erzählt er von einem Aufstand der Puppenspieler

von Katrin Diehl  25.07.2024

Ruth Weiss

»Meine Gedanken sind im Nahen Osten«

Am 26. Juli wird die Schriftstellerin und Journalistin 100 Jahre alt. Ein Gespräch über ihre Kindheit in Südafrika, Israel und den Einsatz für Frauenrechte

von Katrin Richter  25.07.2024

Streaming

In geheimer Mission gegen deutsche U-Boote

Die neue Action-Spionagekomödie von Guy Ritchie erinnert an »Inglourious Basterds«

von Patrick Heidmann  25.07.2024

Bayreuth

Das Haus in der Wahnfriedstraße

Die Debatten um Richard Wagners Judenhass gehen in eine neue Runde. Nun steht sein antisemitischer Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain im Fokus

von Axel Brüggemann  25.07.2024

Sehen!

»Die Ermittlung«

Der Kinofilm stellt den Aussagen der Zeugen die Ausflüchte der Angeklagten gegenüber

von Ayala Goldmann  25.07.2024

Kommentar

Der »Spiegel« schreibt am eigentlichen Thema vorbei

In seiner Berichterstattung über das Abraham-Geiger-Kolleg konstruiert das Magazin eine Konfliktlinie

von Rebecca Seidler  25.07.2024 Aktualisiert

Literatur

Dieses Buch ist miserabel. Lesen Sie dieses Buch!

Eine etwas andere Kurzrezension von Ferdinand von Schirachs Erzählband »Nachmittage«

von Philipp Peyman Engel  24.07.2024 Aktualisiert