Eine kluge Entscheidung und 120 Stunden pausenloser Organisation können das Lebensgefühl vieler Menschen vom Status »besorgt« auf «ziemlich glücklich« ändern. In der langen Warteschlange vor der Sicherheitskontrolle auf dem Weg zum Konzerthaus am Gendarmenmarkt steht eine Gruppe jüdischer Kulturschaffender und wirkt fröhlich und gelöst: »Ich bin so stolz auf Berlin. Dieses Konzert macht mich einfach froh«, strahlt eine Feature-Autorin. »Es wurde auch Zeit«, ergänzt eine Schriftstellerin.
Zwei Gäste drehen sich um: »Wir kommen aus Ingolstadt, haben online sofort Karten organisiert und sind extra heute Morgen losgefahren, nur, um dieses Konzert zu erleben.«
Berlin redet nicht nur, Berlin handelt. Nach der skandalösen Absage des Flanders Musikfests Gent an die Münchner Philharmoniker, weil ihr zukünftiger Dirigent Lahav Shani als Jude und Israeli sich angeblich nicht genug von Israel distanziert habe, ist Berlin eingesprungen. Ausgerechnet am 90. Jahrestag der Nürnberger Gesetze setzt die Stadt, in der die Schoa geplant wurde, ein nicht hoch genug einzuschätzendes Zeichen.
Innerhalb von drei Stunden waren alle 1700 Karten ausverkauft
Innerhalb von drei Stunden waren alle 1700 Karten ausverkauft. Kulturstaatsminister Wolfram Weimer dankte in der Begrüßung den Organisatoren, dem Musikfest Berlin, der Stiftung Berliner Philharmoniker und dem Konzerthaus: »Viele jüdische Künstler finden momentan keine Bühnen, weil sie Juden sind. Hier zeigt die Mehrheit der Gesellschaft, dass wir ein Europa der Aufklärung, der Toleranz und der Freiheit stützen. Wir freuen uns auf Lahav Shani, um dessen moralische Tiefe und humanistische Weite wir wissen.«
Im Publikum hatten der ehemalige Bundeskanzler Olaf Scholz und seine Frau Platz genommen, ebenso Bildungsministerin Karin Prien, die ehemalige Kulturstaatsministerin Monika Grütters, Berlins Kultursenatorin Sarah Wedl-Wilson und, mit besonders viel Applaus bedacht, der Dirigent Daniel Barenboim mit seiner Frau. Der Auftrittsapplaus des Orchesters dauerte anderthalb Minuten, ungewöhnlich lange, der Schlussapplaus mit lautem Jubel und Standing Ovations wollte auch nach vier Minuten nicht enden.
Eine sehr besondere Stimmung hat diesen Abend getragen. Erleichterung, dass ein außergewöhnliches Konzert zustande kommen konnte, die Sicherheit, dass es viele Menschen mit dem richtigen moralischen Kompass gibt und das Glück, ein einzigartig schönes Kunstereignis erleben zu dürfen.
Die Geigerin Lisa Batiashvili spielte Beethovens Violinkonzert zart und kraftvoll
Die Geigerin Lisa Batiashvili hat Beethovens Violinkonzert zart und kraftvoll gleichermaßen, virtuos und eindringlich gespielt. Es ist lang, knapp 50 Minuten, kein Räuspern, kein Husten hat es gestört. Selbst in den Pianissimo-Takten herrschte gespannte Stille. Als Zugabe setzte sich der Dirigent ans Klavier und spielte mit der Solistin Fritz Kreislers »Liebesleid«. Passend: der weltberühmte Wiener Komponist hatte 15 Jahre in Berlin gelebt, bevor er die Stadt wegen der Nazis verlassen musste.
Zum Triumph geriet schließlich Richard Wagners Vorspiel und der Liebestod aus »Tristan und Isolde«. Die leise verhallende musikalische Erlösung des letzten Taktes spiegelte die Gefühle des Publikums wider. Lahav Shani hielt die Spannung mit den Händen. Absolute Stille. Und dann: minutenlanger Beifall, Ovationen, Hochrufe, Begeisterung. Freude auch im Orchester, das am nächsten Morgen nach Paris geflogen ist. Dieser Abend mit einem außergewöhnlichen Konzert wird in unseren schwierigen Zeiten lange nachhallen.