Literatur

Ein Atlantis in Böhmen

Josef Škvorecký erzählt in »Der siebenarmige Leuchter« Geschichten über jüdisches Leben im Städtchen K.

von Alexander Kluy  11.04.2023 13:53 Uhr

Josef Škvorecký erzählt in »Der siebenarmige Leuchter« Geschichten über jüdisches Leben im Städtchen K.

von Alexander Kluy  11.04.2023 13:53 Uhr

2019 war die Tschechische Republik Gastland auf der Leipziger Buchmesse. Der Nachhall war sacht bis schütter. Und dies scheint vier Jahre später noch immer so.

Dabei zählt die Literatur aus Böhmen und Mähren zur stärksten, farbigsten und beschwingtesten nicht nur Mittel-, sondern ganz Europas, mit Milan Kundera, Ivan Klíma, mit dem surrealistischen Lyriker Jaroslav Seifert, der 1984 den Literaturnobelpreis zugesprochen bekam, mit Pavel Kohout, Jiri Weil, Jáchym Topol, Radka Denemarková, mit dem Lyriker Petr Borkovec oder dem so unterhaltsam intelligenten Jaroslav Rudis.
1969 blieb der 1924 in Ostböhmen geborene Josef Škvorecký, der ein Stipendium für Kalifornien hatte, in den USA, zog weiter nach Kanada, gründete in Toronto mit seiner Frau einen Buchverlag, aufschlussreich »Sixty-eight Publishers« genannt.

Dessen Schwerpunkt: Literatur aus der Tschechoslowakei, Milan Kunderas Prosa ebenso wie Václav Havels Theaterstücke und Aufsätze oder auch Ludvík Vaculik.

Daneben bekleidete er eine Dozentur an der University of Toronto, wurde Professor. 1990 wurde er mit 66 Jahren pensioniert. Er schrieb und übersetzte parallel dazu noch 22 Jahre weiter. Er starb am 3. Januar 2012. Und gilt seit Jahrzehnten in Kanada längst als wichtiger kanadischer Autor.

VERGRIFFEN Aktuell ist auf Deutsch nur ein anderer Titel von ihm, der einen Kosmos aussann, lieferbar: Eine prima Saison. Die Romane Feiglinge – 1948 geschrieben, erst 1958 von der Zensur in Prag freigegeben, ab 1964 ein nationaler Bestseller und erstmals 1969 in deutscher Übersetzung publiziert –, Das Mirakel und Das Basssaxophon, 2000 und 2005 erschienen, Letzteres in der verdienstvollen, aber heute dem antiquarischen Vergessen anheimgefallenen Edition »Tschechische Bibliothek«, sind allesamt vergriffen.

In Der siebenarmige Leuchter, geschrieben zwischen 1956 und 1963 und 1964 in Prag veröffentlicht, wird in sieben Geschichten von jüdischem Leben und jüdischen Einwohnern im Städtchen K. in den 30er- und 40er-Jahren erzählt. Hinter K. verbirgt sich, wie so oft bei Škvorecky, das böhmische Kostelec.

Der Erzähler Danny präsentiert – es sind die 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts – Rebekka, Jüdin und KZ-Überlebende. In diese Hell-Dunkel-Suada Dannys eingestreut, schildert sie ihre eigene Rückkehr aus dem Lager, ihre Odyssee als einzige Holocaust-Überlebende ihrer Familie durch Prag, von verlorener, frech okkupierter Elternwohnung zu besetzter Onkelwohnung.

Zugleich wird angedeutet, dass Danny seine aus Kinder- und Jugendlichen-Perspektive mit juvenilem Weltstaunen dargebotenen Geschichten nicht erzählt, um Rebekka à la Scheherazade am Leben zu erhalten, nein: Sie ist nicht mehr am Leben. Genauso wenig wie der Allgemeinmediziner Dr. Strass, der in einer Villa residierte, einen großen Wagen chauffierte – und 1939 von den Nazis verschleppt und ermordet wurde.

So wie der Lehrer und Kantor Katz, der Danny Nachhilfeunterricht gab, oder Onkel Khon oder Bob der Killer. Die Coda des Ganzen bildet schließlich eine Geschichte über Jazz, das andere autobiografische Lebens- und Lebenslustthema Škvoreckys. Die finale Episode über ein subversives Konzert mit Folgen für die Musikerinnen und Musiker ist buchstäblich eine »pièce de résistance«.

ÜBERSETZUNG Hanna Vintr, die vor 21 Jahren schon Das Mirakel eindeutschte, in dem das Alter Ego Danny (Smiricky) von Neuem auftreten sollte wie auch in Der Seeleningenieur und Eine prima Saison, trifft die Škvoreckýsche Tonlage recht gut.

Allerdings hat der Wiener Braumüller Verlag dem Band einen sehr verunglückten, nicht nur subjektiv misslungenen Schutzumschlag verpasst. Sodass hierzulande auf eine Renaissance des Œuvres dieses Autors, von dem kursiert, er sei 1982 für den Nobelpreis für Literatur vorgeschlagen worden – dafür erhielt er allerdings 1999 den tschechischen Staatspreis für Literatur, und ihm wurde zugleich eine vielbändige Gesamtausgabe beschert –, weiterhin zu warten sein dürfte. Noch immer.

Josef Škvorecký: »Der siebenarmige Leuchter«. Übersetzt von Hanna Vintr, Braumüller Verlag, Wien 2022, 192 S., 24 €

Geschichte

CNN-Legende Wolf Blitzer zeigt in Berlin Holocaust-Doku

In dem Film geht es auch um die Familiengeschichte des Journalisten

von Anna Ringle  04.06.2023

Berlin

Haus der Kulturen der Welt feiert Wiedereröffnung

Kulturstaatsministerin Roth steht wegen ihrer Haltung zu BDS massiv in der Kritik. Nun gab sie ein Versprechen

 04.06.2023

Aufgegabelt

Lachs-Sashimi

Rezepte und Leckeres

 04.06.2023

Interview

»Das Misstrauen bleibt«

Stella Leder über Kulturstaatsministerin Claudia Roth, Antisemitismus im Kulturbetrieb und fehlende Empathie gegenüber Jüdinnen und Juden in der Kunstwelt

von Joshua Schultheis  04.06.2023

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Katrin Richter  02.06.2023

Aryeh Nussbaum Cohen

König David aus Brooklyn

Schon mit 14 sprang er als Kantor an den Hohen Feiertagen ein – jetzt singt der Countertenor in Händels Oratorium »Saul« in Berlin

von Ayala Goldmann  02.06.2023

Billy Joel

Der »Piano Man« zieht aus

Der Musiker beendet seine seit zehn Jahren andauernde Konzertserie im New Yorker Madison Square Garden

von Christina Horsten  02.06.2023

Düsseldorf

Paul-Spiegel-Filmfestival gestartet

Das Programm soll »ein realistisches Bild des Judentums und die Vielfalt der jüdischen Identitäten« vermitteln

 01.06.2023

Hard Rock

»Kiss«-Sänger: Ähnlichkeit mit SS-Runen ist uns nicht aufgefallen

Das »Doppel-S« im Band-Logo sollte Blitze darstellen, so der jüdische Bandleader Gene Simmons

 31.05.2023