Rückkehr

Klassentreffen

Im Frankfurter Adressbuch von 1938 findet sich im Reuterweg 53 in der 3. Etage der Eintrag einer Familie Jessel. Es ist das Jahr, in dem der assimilierte jüdische Geschäftsmann Julius Jessel mit seiner Frau unter der erzwungenen Zurücklassung des privaten Vermögens seiner deutschen Heimat den Rücken kehrte. Fünf Jahre zuvor hatte ihr Sohn Walter bereits die Stadt seiner Kindheit und Jugend in Richtung Palästina verlassen, war zwischenzeitlich nach New York emigriert, wo er seinen Eltern ein Einreisevisum beschaffen konnte.

Sieben Jahre später steht Walter Jessel als Mitarbeiter des amerikanischen Militärgeheimdienstes vor dem Haus im Reuterweg 53. Das kaum zerstörte Gebäude befindet sich nur zwei Straßenecken entfernt von seinem Headquarter, wo er die Tage zuvor der Befragung des Raketenteams von Wernher von Braun beigewohnt hatte. Während die meisten amerikanischen Beobachter um die ehemaligen NS-Raketenexperten in offenkundiger Bewunderung herumscharwenzelten und sich von den Versprechungen ihres charismatischen Chefs verführen ließen, bewahrte Walter Jessel, der emigrierte Frankfurter Junge, eine vorsichtige Skepsis.

Unter seinen ehemaligen Klassenkameraden ist der ganze Querschnitt der deutschen Bevölkerung.

Zu finden sind diese Informationen in der Einführung zu dem Buch Spurensuche 1945, das jetzt im Fachhochschulverlag erschienen ist. Auf den weiteren 214 Seiten beschreibt Walter Jessel, wie er sich auf die Suche nach seinen Schulkameraden macht, mit denen er im Herbst 1931 an der liberalen »Musterschule« das Abitur ablegte. Abgesehen von einem jüdischen Mitschüler, den er 1935 in Palästina, und seinem (übrigens nichtjüdischen) Zeichenlehrer, den er mit seinen nun amerikanischen Schülern im Central Park entdeckte, hatte er seit dem Abitur niemanden mehr getroffen. In amerikanischer Uniform machte er sich im Herbst 1945 auf die Suche.

EMIGRATION Von den jüdischen Mitschülern waren alle emigriert, von den anderen zwölf war er bei elf fündig geworden. Drei waren als Soldaten der Wehrmacht vermisst, zwei waren tot. Wobei Walter Jessel von den Eltern von einem der beiden erfährt, dass deren Sohn sich dem kommunistischen Widerstand angeschlossen hatte und am 3. Mai 1945 beim Beschuss eines Gefangenenschiffs versenkt wurde. Die Royal Air Force hatte es für einen Truppentransport gehalten. Was Walter Jessel in jenen Wochen 1945 in Frankfurt und Umgebung erlebt und in einer bildhaften Sprache eindrücklich beschreibt, ist die Stimmung der Zivilbevölkerung wenige Wochen nach der bedingungslosen Kapitulation.

Auf der Suche nach seinen Mitschülern besucht Jessel zuallererst das Schulamt der Stadt Frankfurt. Die Behörde wird von einem seiner ehemaligen Lehrer, einem erklärten Nazigegner, geleitet. Der gute Mann hat die Schwierigkeit, einerseits den Schulbetrieb aufrechterhalten zu müssen und andererseits den Anspruch zu haben, ehemalige Parteigänger der NSDAP fernzuhalten. Einer der Aspiranten klagt, dass er einst den Job als Lehrer nur bekommen habe, wenn er in die Nazi-Partei eintrat, was nun dazu führte, dass man ihm diese Arbeit verweigerte.

Unter den ehemaligen Klassenkameraden trifft Jessel den gesamten Querschnitt der deutschen Bevölkerung. Einer von ihnen spielt die Freundschaft zu jenem kommunistischen Mitschüler intensiver hervor, als sie nachweislich gewesen ist, um vom eigenen Mitläufertum abzulenken. Ein anderer erzählt sehr detailliert vom Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 morgens kurz nach 3 Uhr. Bis fünf Minuten vorher hätten er und seine Kameraden es für ein Ablenkungsmanöver gehalten, um ungestört Großbritannien annektieren zu können.

OPPORTUNISMUS Wieder ein anderer, der aus einem reichen Elternhaus stammte und zur Schulzeit noch mit den Kommunisten liebäugelte, hatte später auf Nazi-Parteitagen flammende Reden gehalten. Nun war er aus einem amerikanischen Gefangenenlager ausgebüchst, und Jessel musste mit dessen Frau als Gesprächspartnerin vorliebnehmen. Da war der einstige Schulfreund, der das Kunststück hinbekommen hatte, ein strenger Katholik und gleichzeitig ein nationalsozialistischer Jurist zu sein. Walter Jessel schreibt: »Seine Denkweise hinterließ bei mir den Eindruck, dass sich darin skrupelloser offener Opportunismus und eine spezifische deutsche Art von Arroganz mischten.«

Einige waren Nazis geworden, andere im Widerstand.

Von einem weiteren Schulkollegen trifft er nur dessen Schwägerin. Von ihr erfährt er, dass sein Klassenkamerad sich in eine sogenannte »Halbjüdin« verliebt hatte, sie aber wegen der Nürnberger Gesetze nicht heiraten durfte. Sie sei eine Schauspielerin gewesen. Nachdem er der Aufforderung, sich von ihr zu trennen, nicht nachgekommen war, hatte er seinen Studienplatz der Medizin verloren, und er ging auch ans Theater. Bald durfte seine Freundin nicht mehr auftreten, und er wurde eingezogen. Derzeit befand er sich in einem französischen Kriegsgefangenenlager.

Schließlich ließ sich jene Schwägerin angesichts des jüdischen Soldaten in amerikanischer Uniform zu der fatalen Aussage hinreißen: »Ich habe immer gesagt, Hitler hat einen furchtbaren Fehler gemacht, als er sich die Juden zum Feind gemacht hat. Sie sind eine unschlagbare Weltmacht. ... Wenn sie doch nur zurückkommen würden.« Philosemitismus als perfide Form des Antisemitismus.

MANUSKRIPT Im Dezember 1945 hatte Walter Jessel die »Spurensuche« abgeschlossen und auf der Basis seiner Tagebuchaufzeichnungen als Manuskript im Frühjahr 1946 abgeschlossen. Eine New Yorker Literaturagentin bot es verschiedenen Zeitungsredaktionen und Verlagen an. Ohne Erfolg. Mehr als ein halbes Jahrhundert später erschien es unter dem Titel A Travelogue Through a Twentieth Century Life in den USA.

Auf der Buchrückseite der deutschen Ausgabe ist nachzulesen, was Walter Jessel zu diesem Werk motivierte und es auch für nachfolgende Generationen lesenswert macht: »Die Besuche bei meinen Klassenkameraden und deren Familienangehörigen, die ich in diesem Buch beschrieben habe, waren nicht eine Sache sentimentaler Erinnerung, sondern der Versuch, eine ziemlich grundlegende Frage zu beantworten ...: Würden sich Angehörige anderer Nationen, wenn sie in dieselbe Situation wie die Deutschen während des Hitlerregimes versetzt worden wären, genauso verhalten haben?«

Walter Jessel: »Spurensuche 1945. Ein jüdischer Emigrant befragt seine Abiturklasse«. Fachhochschulverlag, Frankfurt/M. 2021, 245 S., 20 €

Interview

Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle als Schoa-Überlebender und Mengele-Straßen

Schauspieler Jonathan Berlin will Straßen, die in seiner Heimat Günzburg nach Verwandten des KZ-Arztes Mengele benannt sind, in »Ernst-Michel-Straße« umbenennen. Er spielt in der ARD die Rolle des Auschwitz-Überlebenden

von Jan Freitag  08.11.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  08.11.2025

Erinnerungskultur

»Algorithmus als Chance«

Susanne Siegert über ihren TikTok-Kanal zur Schoa und den Versuch, Gedenken neu zu denken

von Therese Klein  07.11.2025

Erinnerung

Stimmen, die bleiben

Die Filmemacherin Loretta Walz hat mit Überlebenden des KZ Ravensbrück gesprochen – um ihre Erzählungen für die Zukunft zu bewahren

von Sören Kittel  07.11.2025

New York

Kanye West bittet Rabbi um Vergebung

Der gefallene Rapstar Kanye West hat sich bei einem umstrittenen Rabbiner für seine antisemitischen Ausfälle entschuldigt

 07.11.2025

Rezension

Mischung aus Angst, alptraumhaften Erinnerungen und Langeweile

Das Doku-Drama »Nürnberg 45« fängt die Vielschichtigkeit der Nürnberger Prozesse ein, erzählt weitgehend unbekannte Geschichten und ist unbedingt sehenswert

von Maria Ossowski  07.11.2025

Paris

Beethoven, Beifall und Bengalos

Bei einem Konzert des Israel Philharmonic unter Leitung von Lahav Shani kam es in der Pariser Philharmonie zu schweren Zwischenfällen. Doch das Orchester will sich nicht einschüchtern lassen - und bekommt Solidarität von prominenter Seite

von Michael Thaidigsmann  07.11.2025

TV-Tipp

Ein Überlebenskünstler zwischen Hallodri und Held

»Der Passfälscher« ist eine wahre und sehenswerte Geschichte des Juden Cioma Schönhaus, der 1942 noch immer in Berlin lebt

von Michael Ranze  07.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  07.11.2025