»Über uns«

Drei Etagen

Irgendwo in Israel: ein Haus, viele Bewohner und jede Menge Geschichten Foto: Stephan Pramme

Ich weiß sehr zu schätzen, dass du hier mit mir hockst und dir schon seit zwei Stunden meine Hirnwichse anhörst», sagt Arnon zu seinem Kumpel aus der Armeezeit. «Ich habe sonst niemanden, dem ich mein Herz ausschütten kann», klagt Chani in einem Brief an ihre Freundin in Amerika. Und Dvorah spricht auf ihren Anrufbeantworter: «Ich muss mit dir reden. Es gibt niemanden außer dir, mit dem ich diese Last sonst teilen könnte.»

Arnon, Chani und Dvorah wohnen in verschiedenen Wohnungen eines Hauses am Rand von Tel Aviv. Sie alle brauchen dringend «jemanden zum Reden», denn ihnen liegt etwas auf der Seele: Chani hat ein Verhältnis mit ihrem Schwager, Arnon fürchtet sich nach einem Seitensprung vor Beziehungsstress mit seiner Frau, und Dvorah denkt nach dem Tod ihres Mannes darüber nach, wie es zum Bruch mit dem gemeinsamen Sohn kommen konnte. All das sind Themen, für die man sich das offene Ohr eines Freundes wünscht – oder das eines Therapeuten.

Erzählungen Der israelische Autor Eshkol Nevo, selbst studierter Psychologe, legt mit Über uns seinen fünften Roman in deutscher Übersetzung vor. Eigentlich sind es drei Erzählungen – verknüpft durch ihre Pro­tagonisten, die in drei Etagen übereinander wohnen. Aus diesem Grund hat Nevo das Buch auch nicht in drei Kapitel unterteilt, sondern in «Drei Etagen» – so auch der Titel des hebräischen Originals: Schalosch Komot.

«Ein Seelenhaus mit seinen drei Etagen» nennt es eine der Protagonistinnen. «Diese drei Etagen sind in der Luft zwischen uns und jemand anderem, im Abstand zwischen unserem Mund und dem Ohr desjenigen, dem wir unsere Geschichte erzählen. Und wenn es so jemanden nicht gibt – gibt es keine Geschichte.»
Eshkol Nevo hat auf seine Art dafür gesorgt, dass diese Geschichten in der Welt sind.

Es gelingt ihm mit bezaubernder Leichtigkeit, das Innenleben seiner Helden vor dem Leser auszubreiten, indem er sie über sich erzählen lässt. Mit dem Einfühlungsvermögen eines Therapeuten bringt er sie zum Reden. Ungemein ehrlich reflektieren sie ihr Tun, offenbaren Geheimnisse, zeigen ihr wahres Selbst – und machen sich dadurch auch verletzbar. Doch Nevo sorgt dafür, dass sich alles im geschützten Raum abspielt.

Perspektive Es beeindruckt zu sehen, wie es ihm gelingt, auch aus weiblicher Perspektive zu schreiben. Wenn Chani, eine Mutter, die wegen der Kinder ihren Job an den Nagel gehängt hat, davon erzählt, wie ihr die Decke auf den Kopf fällt, glaubt man nicht, dass dies ein Mann geschrieben hat: «Ich bin ausgezählt. Geschafft durch die Schwangerschaften. Durch fehlenden Schlaf. (…) Durch die endlos langen Tage, in denen ich mit keinem einzigen Erwachsenen rede. (…) Ich weiß, das wird nicht gern gehört, aber so viele Stunden mit Kindern zusammen zu sein, dörrt einen aus.»

In Nevos Schilderungen über das Zusammenleben von Mann, Frau und Kindern spürt man: Hier weiß einer genau, wovon er schreibt. Es scheint ihm zugutezukommen, dass er selbst in einer fünfköpfigen Familie lebt und ihm die Schattenseiten des Miteinanders vertraut sind. So kann er ungeschönt davon erzählen, wie wenig heil es selbst in heilen Familien oft zugeht.

«Was ist nur aus uns geworden?», fragen sich Nevos Helden in verschiedenen Tonarten. Als Psychologe, Familienvater und nicht zuletzt als ein Mann von Mitte 40 weiß der Autor, dass zwischenmenschliche Beziehungen nie statisch sind, sondern manchmal mit großem Einsatz erneuert, am Leben gehalten – oder eben auch gekappt werden müssen.

Eshkol Nevo: «Über uns». dtv, München 2018, 318 S., 22 €

Glosse

Der Rest der Welt

Friede, Freude, Eierkuchen oder Challot, koschere Croissants und Rugelach

von Margalit Edelstein  09.11.2025

Geschichte

Seismograf jüdischer Lebenswelten

Das Simon-Dubnow-Institut in Leipzig feiert den 30. Jahrestag seiner Gründung

von Ralf Balke  09.11.2025

Erinnerung

Den alten und den neuen Nazis ein Schnippchen schlagen: Virtuelle Rundgänge durch Synagogen

Von den Nazis zerstörte Synagogen virtuell zum Leben erwecken, das ist ein Ziel von Marc Grellert. Eine Internetseite zeigt zum 9. November mehr als 40 zerstörte jüdische Gotteshäuser in alter Schönheit

von Christoph Arens  09.11.2025

Theater

Metaebene in Feldafing

Ein Stück von Lena Gorelik eröffnet das Programm »Wohin jetzt? – Jüdisches (Über)leben nach 1945« in den Münchner Kammerspielen

von Katrin Diehl  09.11.2025

Aufgegabelt

Mhalabi-Schnitzel

Rezepte und Leckeres

 09.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  09.11.2025

Interview

Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle als Schoa-Überlebender und Mengele-Straßen

Schauspieler Jonathan Berlin will Straßen, die in seiner Heimat Günzburg nach Verwandten des KZ-Arztes Mengele benannt sind, in »Ernst-Michel-Straße« umbenennen. Er spielt in der ARD die Rolle des Auschwitz-Überlebenden

von Jan Freitag  08.11.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  08.11.2025

Erinnerungskultur

»Algorithmus als Chance«

Susanne Siegert über ihren TikTok-Kanal zur Schoa und den Versuch, Gedenken neu zu denken

von Therese Klein  07.11.2025