Psychologie

Distanz macht Diebe

Köche kochen, Sänger singen, Sprinter sprinten, und Lügner lügen. So weit scheint die Welt wohlgeordnet. Doch man weiß, dass auch Menschen, die keine Ausbildung zum Maître de Cuisine absolviert haben, gelegentlich kochen. Und selbst wenn man nicht die Stimme einer Whitney Houston besitzt, kann man ab und zu eine kleine Gesangsperformance hinlegen – ob auf einer Karaoke-Party oder zu Hause unter der Dusche. Ebenso pflegen wir manchmal zu rennen – etwa, um einen losfahrenden Bus noch zu erwischen –, obwohl wir keine Olympiadesprinter sind. Wenn das alles stimmt, wie sieht es dann eigentlich mit unserem Lügenverhalten aus?

»Würdest du etwas Schönes aus diesem Geschäft klauen und davonrennen, wenn du nicht erwischt werden würdest?«, fragt Dan Ariely bei der feierlichen Eröffnung des Ladens für Partybedarf seiner Schwester Roni in Tel Aviv. Der amerikanisch-israelische Psychologieprofessor zählt zu den erfolgreichsten und kreativsten Verhaltensökonomen der Welt. In seinem jüngsten Buch Die halbe Wahrheit ist die beste Lüge: Wie wir andere täuschen – und uns selbst am meisten erklärt er, wie und warum wir alle gelegentlich zu Lügnern werden.

Gewissen »Was dich in diesem Moment davon abhält, dieses Geschäft zu bestehlen, ist dein schlechtes Gewissen. Das funktioniert allerdings nicht immer«, erläutert Ariely. »Wir verfügen über die Gabe, unsere Unehrlichkeiten zu rationalisieren, und solange wir nur ein kleines bisschen schwindeln, schaffen wir es auch, vernünftig klingende Erklärungen dafür zu finden.«

So hat Ariely etwa seine Studenten an der Duke University in North Carolina gefragt, wer von ihnen Filme, Musik oder Bücher illegal aus dem Internet herunterlädt. »Fast 100 Prozent von ihnen haben so etwas schon einmal gemacht. Dann frage ich sie, wer deswegen Gewissensbisse hat. Und keiner hebt den Arm.« Im Gegenteil, die Studenten erfinden jede Menge fantastischer Rechtfertigungen, etwa, dass sie den Künstlern helfen, ihre Musik zu verbreiten, oder sich gegen die korrupten Plattenfirmen wehren oder dass sie die CD im Laden sowieso nie gekauft hätten.

Solange wir der Meinung sind, dass sich unsere Taten als moralisch legitim darstellen lassen, fühlen wir uns nicht schuldig. Dabei geht es mehr um die Normen und Werte der Gesellschaft als um potenzielle Strafen oder andere negative Folgen für einen selbst. »Wenn wir lügen und betrügen, hat das nichts mit einer Kosten-Nutzen-Analyse zu tun«, betont Ariely. »Ich habe mit vielen Kriminellen gesprochen, und keiner von ihnen rechnet sich vorher aus, welche Langzeitfolgen seine Taten haben könnten. Es geht dabei vielmehr um den Konflikt zwischen dem, was wir wollen, und dem, was wir allgemein für richtig halten. Man kann beides in Einklang bringen, solange es sich einigermaßen rational rechtfertigen lässt.«

In Experimenten beweist der Wissenschaftler, dass Menschen eher dazu neigen, etwas Verbotenes zu tun, wenn sie die Tat im Voraus als »weniger illegal« einstufen. »Wir haben zum Beispiel einen Versuch in einem Studentenwohnheim durchgeführt, indem wir ein paar Coca-Cola-Flaschen und etwas Bargeld öffentlich haben herumliegen lassen. Dabei haben die meisten Passanten eher eine der Flaschen als das Bargeld mitgehen lassen. Warum? Weil sich Getränkeklauen nicht so falsch und schlimm anfühlt wie das direkte Stehlen von Geld. Das war eine meiner besorgniserregendsten Untersuchungen«, erinnert sich Ariely.

abstrakt Beunruhigend ist dieses Ergebnis vor allem, wenn man bedenkt, dass sich unsere Gesellschaft heute immer mehr vom Bargeld wegbewegt. Wir zahlen mit Kreditkarten, erhalten unsere Gehälter per Überweisung, schreiben Schecks. Diese zunehmende physische und psychische Distanz zum Geld könnte in Zukunft zu immer häufigeren und schwereren Betrugsfällen führen. »Es entsteht die Situation, dass der Täter den eigentlichen Betrug viel weniger zu spüren bekommt.

Ich glaube, dass man heute viel mehr schwindelt als früher, und das liegt nicht etwa daran, dass die Menschen so viel schlechter geworden sind, sondern daran, dass es uns mittlerweile psychologisch viel leichter fällt, solche Straftaten zu rationalisieren. Wenn man nicht direkt mit Geld konfrontiert wird, kann man sich viele Gründe und Erklärungen dafür einfallen lassen, um solche Verstöße herunterzuspielen und sich weiterhin für einen guten Menschen halten zu können. Darum werden wir in Zukunft noch wesentlich vorsichtiger sein müssen«, warnt Ariely.

Was wir dagegen unternehmen könnten, sei, diese Distanz wiederum möglichst zu verringern. Das gelte auch für geschäftliche Situationen. Wie Dan Ariely wiederum experimentell überprüft hat, hilft es zum Beispiel, wenn man Arbeitnehmer darauf aufmerksam macht, dass sie für ganz bestimmte Individuen arbeiten. Investmentbankern könnte man auch Fotos ihrer Kunden auf dem Desktop einblenden.

ehrenkodex Es ist auch nützlich, jemanden im Voraus einen Ehrenkodex unterzeichnen zu lassen, und zwar »nicht, um ihn auf mögliche Konsequenzen hinzuweisen«, so der Wissenschaftler, »sondern weil es ihm nach einem ausdrücklichen Versprechen, nicht zu lügen, zumindest eine bestimmte Zeit lang schwerer fallen wird, sein eigenes unehrliches Verhalten vor sich selbst zu begründen, ohne sich dabei als schlechter Mensch zu fühlen.«

Darum lautet Arielys Rat: »Statt solche Probleme durch Strafen beseitigen zu wollen, sollten wir uns mehr auf die Erziehung der Gesellschaft konzentrieren und darauf, klare Definitionen einer allgemeingültigen Moral zu schaffen und diese dann zu verinnerlichen.«

Dan Ariely: »Die halbe Wahrheit ist die beste Lüge: Wie wir andere täuschen – und uns selbst am meisten«. Knaur, München 2012, 320 S., 19,99 €

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