Sie ist fünf Jahre alt, als sie von einem Erkerfenster der elterlichen Wohnung in Wien aus den riesigen Trauerzug beobachtet, der da drüben am Ring entlangzieht. Woran sie sich später ebenfalls erinnern wird: diese Stille und die bedrückten Gesichter der Erwachsenen, in denen bereits die Ahnung aufschien, dass an diesem grauen Herbsttag des Jahres 1916 nicht nur der ehrfürchtig verehrte Kaiser Franz Josef zu Grabe getragen wurde, sondern mit ihm eine ganze Welt.
Eine Szene wie aus einem Joseph-Roth-Roman auch das nächste Initiationserlebnis jener Hilde Spiel, die im Sommer 1936 dann schon Studentin ist: »Am 22.Juni fuhr ich mit der Elektrischen, dem ›Einundsiebziger‹, zur Stadt und blickte zufällig über die Schulter eines Nebenstehenden auf die Schlagzeile seiner Zeitung: ›Der Philosoph Moritz Schlick erschossen‹«.
Für die junge Frau aus jüdischer Familie, deren Vorfahren bereits Ende des 19. Jahrhunderts zum Katholizismus konvertiert waren, hatte der rational-neoposivistische Denker, ein Gegner jeglicher scholastischer Spekulationen, eine Art intellektueller Vaterstelle eingenommen: »Schlicks naturwissenschaftliche Philosophie hat mich davor bewahrt, mich in einem philosophischen Überbau nach Art von Martin Heidegger zu verirren. Sie hat mich aber auch gegen den Marxismus imprägniert, der ein Gebilde von Konstruktionen war und Regeln festlegte, die nicht beweisbar waren.«
EXIL Die austrofaschistische Presse jener Zeit aber bejubelte die Ermordung (»Der Jude ist der geborene Ametaphysiker und verdirbt das Edelporzellan des Volkstums«), und Hilde Spiel erkannte zum Glück rechtzeitig, dass in diesem Wien kein Bleiben mehr war. Zusammen mit ihrer Familie und ihrem ersten Mann, dem späteren Thomas-Mann-Biografen Peter de Mendelssohn, übersiedelte sie noch im gleichen Jahr nach London.
Und erinnert sich an all das, inzwischen eine betagte, ihre Alterskrankheiten tapfer niederringende Dame, in ihrer zweibändigen Autobiografie, deren letzter Teil Welche Welt ist meine Welt? Erinnerungen 1946–1989 im Herbst 1990 erscheint, ein Jahr nach den friedlichen Revolutionen im Ostblock.
Die gutbürgerliche Herzenslinke wollte nie Marxistin sein.
Auf der Frankfurter Buchmesse hält Marcel Reich-Ranicki, der schon Anfang der 60er-Jahre Essays von Hilde Spiel rühmend besprochen hatte, die Präsentationsrede – nicht ohne die leicht maliziöse Erwähnung jener Memoiren-Passagen, in denen die Autorin über ihre in England scheiternde Ehe schreibt, über Arrangements zu dritt und einen neuen, mit ihr ebenfalls nicht allein in Monogamie verbundenen Gatten. Die Grande Dame der deutschsprachigen Publizistik, quasi ein lebendes Muster an Feinheit, klugem Urteil, Stil und fairer Dezenz, gar eine frühe Feministin?
ETIKETT Noch wenige Wochen vor ihrem Tod am 30. November 1990 aber hatte Hilde Spiel dieses Etikett abgelehnt – so wie sie, die gutbürgerliche Herzenslinke, ja auch keine Marxistin hatte sein wollen und jeglichem Ismus distanziert gegenüberstand. Das galt übrigens auch für einen rabiaten Antikommunismus, wie ihn ehemalige Genossen wie Arthur Koestler oder Franz Borkenau vertraten.
Ihnen war Hilde Spiel – als Kulturkorrespondentin 1946 temporär auf den Kontinent zurückgekehrt – im Nachkriegsberlin begegnet, wo sie als Filmkritikerin der »Welt« arbeitete und in Melvin Laskys Zeitschrift »Der Monat« jene feinziseliert-bildungsgesättigten, aber nie wortklingelnd-schwerblütigen Miniatur-Essays publizierte, für die sie späterhin berühmt werden sollte. Ihre stilistische Referenz: die Musikalität eines Hugo von Hofmannsthal und die anspielungsreiche Lakonie eines angelsächsischen Common Sense.
Melvin Lasky, so erinnert sie sich in ihren Memoiren, war es schließlich auch, der sie gegen die üble Nachrede ihres oszillierenden Freundfeindes Friedrich Torberg verteidigte, der versucht hatte, die erzliberale Hilde Spiel als wankelmütige Kryptokommunistin zu denunzieren.
Trotz der miterlebten Zivilisationsbrüche wollte sie »the great conversation of mankind« niemals abbrechen lassen.
Alte, vergessene Geschichten aus der längst entschwundenen Welt jener jüdischen Intellektuellen, die ihre existenziellen Erfahrungen zumindest im westlichen Nachkriegseuropa hatten fruchtbar machen können? Ja und nein.
Zeugen doch nicht nur die spannenden und bis heute eminent lesbaren Memoiren, sondern auch die während der Jahrzehnte in zahlreichen Sammelbänden veröffentlichten (und damit glücklicherweise zumindest noch antiquarisch erhältlichen) Rezensionen, Theaterbesprechungen, Essays, Gedichtinterpretationen und Schriftstellerporträts von dem, was Hilde Spiel so wichtig war: trotz – oder gerade wegen – der miterlebten Zivilisationsbrüche »the great conversation of mankind« niemals abbrechen zu lassen, den Ariadnefaden straff zu halten, sich von der Kultur kein Allheilmittel gegen Barbarei zu erhoffen, aber doch darauf zu insistieren, wie wichtig das unentwegte Vermitteln einer Tradition ist, die stets mehr sein muss als lediglich traditionell.
»Die Weite der alten österreichischen Monarchie, die noch in uns war« wird freilich bei ihr ohne jeglichen schönfärberischen Goldrand beschrieben, sondern im Wissen um Niedergang und Verlust.
NUANCEN Schließlich erst 1963 aus London nach Wien zurückgekehrt und Anfang der 80er-Jahre noch einmal für zwölf Monate als Kulturkorrespondentin der FAZ an der Themse, erinnern ihre 1984 erschienenen Englischen Ansichten nicht zuletzt daran, was »anglophil« tatsächlich bedeutete, ehe teutonische Wirrköpfe wie Karl-Heinz Bohrer oder, auf der nach unten offenen Skala, Alexander Gauland diesen Ehrentitel zur ungerechtfertigten Selbstbeschreibung kaperten.
Vor allem aber würde Hilde Spiels Prosawerk eine Wiederentdeckung lohnen, so etwa der konzise, von eleganter Beschreibungsgenauigkeit zeugende Geschichtenband Der Mann mit der Pelerine oder der bereits Ende der 30er-Jahre (zuerst auf Englisch) geschriebene Roman Flöte und Trommeln, der eine junge Frau im faschistischen Vorkriegs-Italien porträtiert, wo sie sich an Kultur und Landschaft nicht sattsehen kann, erotische Erfahrungen diverser Art sammelt und gleichzeitig spürt, dass die hiesige Lebendigkeit längst in einen inhumanen Vitalismus abgekippt ist und auch auf den vorerst in der Espresso-Bar noch willkommenen geheißenen jüdischen Dorfarzt eine schlimme Zukunft wartet.
Ein Vergleich mit Georg Hermanns Roman Der etruskische Spiegel böte sich an, aber die an der Neuen Sachlichkeit geschulte, präzis sinnliche Diktion Hilde Spiels ist uns Zeitgenossen dann wohl doch näher.
neuveröffentlichung Wie gut, fände sich ein couragierter Verlag für eine Neuveröffentlichung, vor allem auch für das literarische Tagebuch Rückkehr nach Wien. Hilde Spiel, 1946 in der britischen Uniform eines »war correspondent« in ihre Geburtsstadt zurückgekehrt, wo sie im Café Herrenhof den alten, aber nicht unbedingt guten »Dämonen der Gemütlichkeit« wieder begegnet, wo sie in den Gesichtern nach den Verbrechen des NS-Zeit forscht, gerührt wieder die alte Tram Numero 71 um die Kurve knirschen hört ... und sich dann erinnert, welch schreckliche Nachricht sie im Sommer 1936 in einem dieser Wagen empfangen hatte.
Hilde Spiel zu lesen, bedeutet Beunruhigung und gleichzeitig ein wiederzuentdeckendes Vertrauen in die Kommunikationsfähigkeit der Sprache: Denn nicht nur »die Wahrheit« ist sagbar, sondern auch die feinen, beinahe unsichtbaren Nuancen, die sie wie Adern durchziehen. Die »Grande Dame« wusste, was sie konnte.