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Die Redaktion empfiehlt ...

Der Klassiker: am Strand lesen Foto: dpa

Zwischen Bialik und Carmelmarkt
Normalerweise finde ich Bildbände wenig aufregend. Manchmal blättere ich im Wartezimmer meines Zahnarztes, der diese Meinung offenbar nicht teilt, durch einen Wälzer. Meist gelangweilt. Nun aber wollte ich einem lieben Freund Geschmack auf Israel machen. Die Buchhändlerin hielt mir einen Bildband unter die Nase. Dieser hier sei besonders, beharrte sie. Und sie überzeugte mich: Tel Aviv – Yafo 360 ist wirklich anders. Die Bilder der Fotografin Dana Friedlander schaffen es, den Betrachter mitten hinein in die Atmosphäre der lebendigen Metropole am Mittelmeer zu ziehen. Viele der Fotografien sind aufklappbare Panoramaaufnahmen, etwa von der malerischen Bialik-Straße, dem Carmelmarkt oder der zentralen Plaza im alten Neve Zedek. Aufgenommen vom Boden und aus der Luft. Fast ist es so, als schlendere man mit dem Buch auf dem Schoß durch die Straßen. Mit 126 Seiten, in verschiedene Gegenden von Tel Aviv unterteilt und mit kurzweiligen Texten von Ephraim Sidon unterlegt, ist der Band nicht überladen. Er macht Lust darauf, Tel Aviv persönlich kennenzulernen und unbedingt die Panoramafunktion an seiner Kamera auszuprobieren. Sabine Brandes

Dana Friedlander und Ephraim Sidon: »Tel Aviv - Yafo 360«. 2013, 126 S., 69 $

Mainstream, aber cool
Zugegeben: Es ist nicht sonderlich originell, ein Buch zu empfehlen, das ohnehin schon zu den erfolgreichsten Romanen der Gegenwartsliteratur gehört. Als Wolfgang Herrndorfs Tschick 2010 erschien, wirbelte es den trägen deutschen Literaturbetrieb auf wie zuvor nur wenige Bücher. Seitdem hat sich Tschick mehr als zwei Millionen Mal verkauft, wurde in 30 Ländern veröffentlicht und hat auf den Theaterbühnen zwischen Konstanz und Kiel sogar Goethes Faust von Platz eins verdrängt. Tatsächlich hat der große Erfolg mich anfangs auch skeptisch gemacht. Muss man nach Der Fänger im Roggen und Huckleberry Finn wirklich noch einen anderen Adoleszenz-Roman lesen? Über einen wohlstandsverwahrlosten 14-Jährigen und einen semikriminellen jugendlichen russischen Spätaussiedler, die sich in einem geklauten Lada auf eine Abenteuerreise durch die Provinz begeben? Und will man wirklich lesen, was alle lesen? Ja, man will! Zumindest dieses Buch. Tschick ist ein seltenes Juwel in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Die schnoddrig-lakonische Rollenprosa der beiden Protagonisten macht süchtig. Die fast endlosen Satzkaskaden erzeugen einen Erzählstrom, der einen – ganz gleich, ob am Meer, in der U-Bahn oder im Liegestuhl lesend – unweigerlich mitreißt. Selten hat man eine derart zarte und einfühlsame Prosa gelesen. Ein weises, berührendes, und zugleich brüllend-komisches Buch, das nach der Lektüre noch lange in einem nachwirkt. Philipp Peyman Engel

Wolfgang Herrndorf: »Tschick«. Rowohlt, Berlin 2010, 256 S., 16,95 €

Mutige Analyse
»Es sieht so aus, als seien wir zu lax mit den Erscheinungsformen des jüdischen Terrors umgegangen«, sagte Israels Staatspräsident Reuven Rivlin Anfang August. Anlass waren der Brandanschlag auf eine palästinensische Familie und Angriffe auf eine Kirche und Moscheen, für die jüdische Extremisten verantwortlich gemacht wurden. Doch wie konnte es so weit kommen? Wer nach einer Erklärung sucht, kann sie in dem Buch Die Herren des Landes der Historikerin Idith Zertal und des Journalisten Akiva Eldar finden. In der umfassenden Gesamtgeschichte der jüdischen Siedler seit 1967 im Westjordanland und im Gazastreifen (dort bis zum Rückzug der israelischen Armee 2005) beschreiben die Autoren, wie alle israelischen Regierungen jenseits der Grünen Linie rechtsfreie Räume zuließen, in denen jüdische Extremisten ungehindert agieren konnten – bis hin zu Formen des politischen Terrorismus. Man muss nicht allen Thesen der Autoren zustimmen – und wird doch schmerzlich erkennen: Das fast 600 Seiten dicke Buch ist voll bitterer Wahrheiten über Fundamentalisten in Israel, die die einzige Demokratie im Nahen Osten von innen gefährden. Gerade diejenigen, die das Land Israel lieben, sollten den Mut haben, sich dieser Analyse zu stellen. Ayala Goldmann

Idith Zertal und Akiva Eldar: »Die Herren des Landes, Israel und die Siedlerbewegung seit 1967«. DVA, München 2007, 592 S., 28

Auch vergesslich? Hier lang, bitte!
Na, auch was vergessen? Kofferschlüssel, Badehandtuch, Strandlektüre? Wenn Sie – wie ich auch – zu denen gehören, die nicht nur auf dem Weg in den Urlaub, sondern auch zu Hause oder im Büro gerne mal etwas liegenlassen oder immer wieder lange nach etwas suchen müssen, dann ist das die richtige Lektüre: The Organized Mind. Darin schreibt der amerikanische Autor und Neurowissenschaftler David J. Levitin, wie das so funktioniert mit dem Gehirn und dem Gedächtnis. Er meint, dass unsere Gehirne mehr beansprucht werden denn je, dass wir mit viel zu vielen Informationen tagtäglich überhäuft werden, vor allem von denen, die unsere Computer und Mobiltelefone ausspucken. Amerikaner müssen heutzutage fünfmal so viele Informationen verarbeiten wie in den 80er-Jahren. Alleine in unserer Freizeit (ohne Arbeit) verarbeiten wir 34 Gigabite täglich, 100.000 Wörter. Angeblich schauen wir durchschnittlich fünf Stunden Fernsehen täglich, das entspricht 20 Gigabyte Video-Images. Wir leben in Zeiten des Überangebots. Supermärkte hatten in den 70er-Jahren etwa 9000 Artikel in den Regalen und Kühltheken, jetzt sind es rund 40.000, obwohl wir nur etwa 150 Produkte durchschnittlich brauchten. Im Urlaub wahrscheinlich noch weniger. Psychologen sagen, dass nicht die glücklicher sind, die mehr haben, sondern die, die mit dem, was sie haben, zufrieden sind. Was tun? Alles Ignorieren und Entscheiden hat seinen Preis. Neurowissenschaftler meinen, dass Unproduktivität und Müdigkeit von einem Übermaß an Entscheidungen kommen. Es scheint, als kann unser Hirn nur eine bestimmte Menge von Entscheidungen pro Tag zu treffen. Und es kann die Wichtigkeit von Entscheidungen nicht unterscheiden, es priorisiert nicht. Das Hirn kann die Informationen zwar verarbeiten, aber wir haben Probleme, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Und die Verarbeitung macht uns müde. Jeder Facebook-Post, jede Twitter- und WhatsApp-Nachricht braucht Energie. Der häufigste Grund, warum wir Schlüssel und ähnliches verlieren, ist, dass wir mit anderen Dingen abgelenkt sind, unser Aufmerksamkeitssystem einfach komplett überladen ist. Wir besitzen heute tausende Dinge mehr als die früheren Jäger und Sammler. Wir haben mehr, als wir beherrschen können. David J. Levitin erklärt in The Organized Mind faktenreich und zugleich unterhaltsam, wie wir mit diesem Phänomen des Informations- und Entscheidungsüberflusses umgehen können – eine fast »unvergessliche« Lektüre. David Kauschke

Daniel J. Levitin: »The Organized Mind: Thinking Straight in the Age of Information Overload«. Plume, 528 S., 12,95

Fahrt in die Geschichte
Eigentlich ist alles vorbei: Die Tour de France rollt dieses Jahr nicht mehr. Seine Radsportlerkarriere hat Dieter Wiedemann auch beendet. Und die DDR, die ihm das Leben so schwer gemacht hatte, nachdem er abgehauen war, ist auch perdu. Aber was der englische Journalist Herbie Sykes dem eigentlich nicht auf Publizität versessenen Wiedemann entlockt hat, was er mit Stasiakten und vielen Interviews gecheckt hat, ist eine nicht nur sporthistorisch sensationelle Geschichte. Wiedemann war ein Radsporttalent, wie es nicht alle Tage vorkommt. Er wurde in der DDR gefördert, nahm an der Friedensfahrt teil und hatte nichts gegen das System. Bis er sich verliebte. In ein Mädchen im Westen. Wie ihm die DDR-Behörden, vor allem die Staatssicherheit, das Leben schwermachten, wie er und seine Familie nach seiner Flucht drangsaliert wurden und wie genau Sykes das dokumentiert – das ist großer Stoff. Wer will, kann in Sykes Recherche bloß ein Radsportbuch erblicken. Wer es aber ernst nimmt, der hat ein Stück Journalismus in der Hand, das vorbildlich sein sollte für die Beschäftigung mit vielen gesellschaftlichen und historischen Themen. Martin Krauß

Herbie Sykes: »Das Rennen gegen die Stasi. Die Geschichte des Radrennfahrers Dieter Wiedemann«. Covadonga, Bielefeld 2015, 420 S., 19,80

Kochen und viel mehr
Yotam Ottolenghis Leben, davon ist er überzeugt, muss früher irgendwo im alten Persien gewesen sein. Denn woher sonst käme seine Leidenschaft für eingelegte Limetten, Safran-Reis oder aufregende Gewürzkombinationen? Ob nun Perser oder nicht: Danke für dieses Buch! Der Londoner Koch mit israelischen Wurzeln hat vor fünf Jahren mit Plenty einen mittlerweile Klassiker der vegetarischen Küche geschrieben. Dass der zweite Teil, Plenty More, da nicht lange auf sich warten ließ, freut die Ottolenghi-Kochgemeinde – die übrigens nicht nur aus Vegetariern besteht. Zu Recht, denn ausgefallene Rezepte wie »Wassermelonen-Gurken-Gazpacho« oder »Iranischer Gemüseeintopf mit getrockneter Limette« locken auch den überzeugtesten Fleischesser an den Tisch. Das Kochbuch ist allerdings nicht nur vom Inhalt her ein tolles Lesebuch, sondern auch optisch ein Genuss. Fotos von endlich einmal nicht durchgestylten Vorratsschränken, Nahaufnahmen von Salaten und der Ausblick, die Gerichte dann auch selbst vielleicht eimal genau so hinzubekommen, sind Grund genug, sich das 352 Seiten starke Buch immer wieder anzusehen. Wer dann noch nicht genug hat von »Auberginen-Käsekuchen« oder »Gebackenem Rhabarber mit süßem Labane«, der folgt Ottolenghi auf Instagram (www.instagram.com/ottolenghi) – und hofft insgeheim, noch eine Portion irgendeines Plenty More-Gerichts übrig zu haben. Katrin Richter

Yotam Ottolenghi: »Plenty More«. Ebury Press, London 2014, 352 S., 22,95

Warum Gott Emil heißt
Gott ist schon alt und ein wenig vergesslich. Er leiht sich von einem finnischen Sozialdemokraten den Namen Emil (Elohim) Hankonen, sitzt in einer Taverne auf der griechischen Insel Thessaloniki und spielt Backgammon – ausgerechnet mit einem kalabrischen Mafiaboss und Halbtitan namens Donadoni (Don Adonaj). Gott verliert seinen Einsatz keinen Geringeren als die Welt – an Donadoni und muss nun mitansehen, wie dieser damit herumexperimentiert. Autor Daniel Katz gilt nicht ohne Grund als der finnische Saul Bellow. Meisterhaft rollt er biblische Geschichten neu auf. So assoziiert er bekannte Szenen aus der Schöpfungsgeschichte mit Science-Fiction-Elementen, etwa wenn er Donadoni in einem neuen Garten Eden zwei tiefgefrorene Androiden namens Adamo und Eva von einem fernen Planeten anliefern lässt, und verwebt Krimigenre mit Slapstick, Satire, Surrealismus und tragikomischer Erzählweise. Katz fabuliert weise und witzig, versponnen und sprachgewaltig – eine echte Entdeckung. Katharina Schmidt-Hirschfelder

Daniel Katz: »Lots Töchter«. Insel, Berlin 2001, 311 S., 16.95

Geschichtsbuch und Reisebericht
Im Jahr 1620 landeten die ersten britischen Pilgerväter mit dem Schiff »Mayflower« in Cape Cod in der Neuen Welt. Im Bewusstsein vieler Amerikaner ist das die Geburtsstunde ihrer Nationalgeschichte. So hat es jedenfalls auch der Journalist Tony Horwitz in der Schule gelernt. Doch was geschah eigentlich in den mehr als 100 Jahren, die zwischen diesem Datum und der Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus 1492 lagen? Das fragte sich Horwitz, Pulitzer-Preisträger und Reporter für das Wall Street Journal, eines Tages und machte sich selbst auf die Reise. Im Grunde waren es zwei Reisen: eine durch Bibliotheken und Archive, und eine durch den amerikanischen Kontinent, auf den Spuren der frühen europäischen Entdecker – an der Ostküste entlang von New England bis zur Dominikanischen Republik; durch die Great Plains bis nach Mexiko. Überall haben Eroberer, Siedler, Gold- und Glückssucher aus Spanien, Portugal und Frankreich ihre Spuren hinterlassen. Dabei trafen sie auf oft hochentwickelte Zivilisationen, die mit den »wilden« Indianern, wie man sie aus dem Western kennt, nichts zu tun hatten. Als die Passagiere der Mayflower von Bord gingen, waren große Teile der Urbevölkerung durch eingeschleppte Krankheiten wie die Pocken bereits zugrunde gegangen. Ingo Way

Tony Horwitz: »A Voyage Long and Strange. Rediscovering the New World«. John Murray, London 2008. Deutsche Ausgabe: »Es war nicht Kolumbus. Die wahren Entdecker der Neuen Welt«. Mare, Hamburg 2008. 560 S., 29,90 €

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