Bauprojekt

Die neuen Gärten der Finzi-Contini

Das neue Museum steht auf dem Areal des Gefängnisses, von dem aus Ferraras Juden 1943 in die Lager deportiert wurden. Foto: meis

Halt, absteigen», befiehlt der junge Mann in die Nebel hinein, die jetzt wieder durch Ferrara streichen, «Sicherheitscheck». Die Radfahrerin zuckt zusammen. Da lächelt der Italiener breit: «Wir schauen uns nur rasch die Reifen an und ob das Licht funktioniert.» Der Prüfer hat sich an diesem klammen Tag mit einer Kollegin an der Via Mazzini aufgebaut, früher Hauptachse des jüdischen Ghettos. Erst nach der Begutachtung in Sekunden, einer Art Fahrrad-Blitz-TÜV, lässt er die Radler passieren. Sehr vernünftig.

Ferrara in der Emilia-Romagna ist Italiens Fahrradparadies. Keine andere Stadt zählt so viele Zweiräder, laut Statistik pro Kopf annähernd drei. Selbst kleine Bed-and-Breakfast-Pensionen im ehemaligen Ghetto stellen ihren Gästen das umweltfreundliche Fortbewegungsmittel praktisch neben das Bett. Jung und Alt, alle Bevölkerungsschichten rollen hier auf zwei Reifen. Zwar hat die Stadt in der östlichen Poebene nicht wirklich tolle Radwege. Aber Radler, Fußgänger und Autofahrer arrangieren sich hervorragend. Die Ferrareser das merkt der Fremde schnell, sind besonders tolerant und rücksichtsvoll.

tatort Das galt wohl schon fürs Mittelalter. Dank der liberalen adeligen Herrscherfamilie Este war Ferrara früh ein Zentrum des italienischen Judentums. Die gut organisierte jüdische Gemeinde mit Mitgliedern vornehmlich spanischer, portugiesischer und deutscher Herkunft zählte noch bis in die 1920er-Jahre fast 1000 Köpfe. Das jüdische Museum in den Räumen der wiederhergestellten Synagoge in der Via Mazzini 95 konnte davon viel erzählen. Seit dem Erdbeben im Mai 2012 ist das Haus allerdings bis auf Weiteres geschlossen.

Das italienisch-jüdische Erbe findet in Ferrara bald aber ein neues Zuhause. Vor zehn Jahren wurde der Bau des Nationalmuseums des italienischen Judentums und der Schoa – Museo dell’ Ebraismo Italiano e della Shoah, abgekürzt MEIS – beschlossen. Anfang Chanukka 2011 konnte ein Teilabschnitt der Öffentlichkeit übergeben werden. 2016 sollen die Bauarbeiten abgeschlossen sein. Bereits jetzt finden in dem Gebäudekomplex Wechselausstellungen statt.

Die Lage des Museums zwischen der Via Piangipane und der Rampari di San Paolo im Südwesten der Stadt ist ideal. Mühelos lässt sich das MEIS mit dem Rad ansteuern. Das Areal ist ein Stück italienisch-jüdischer Geschichte, ein düsteres allerdings. Hier wird ein Tatort Museum. Das MEIS entsteht auf dem Grund des 1992 geschlossenen Stadtgefängnisses, einem Brennpunkt des antisemitischen Terrors. Das Gefängnis, 1912 errichtet, war ein Sammelpunkt vor der Deportation. Von den 96 Ferrareser Juden, die vor 70 Jahren in deutsche Vernichtungslager verschleppt wurden, überlebten nur fünf.

historie Die Verfolgung und Ermordung der italienischen Juden geschah unter tatkräftiger Mithilfe des faschistischen Staates. Dabei waren nicht wenige italienische Juden anfangs selbst Anhänger Mussolinis gewesen. «Die wahre Tragödie der Ferrareser Juden und eines sehr großen Teils der italienischen Juden überhaupt bestand darin, dass sie (...) sich zuerst mit dem Faschismus einließen und dann, ohne eigentlich zu wissen, warum, spurlos in den nazistischen Vernichtungslagern verschwanden», schrieb der Romancier Giorgio Bassani in seinen Erinnerungen.

Auch Bassani, einer jüdischen Arztfamile entstammend und bis 1943 in Ferrara wohnhaft, wurde in jenem Sommer inhaftiert. Mit seinem von Vittorio De Sica verfilmten Roman Die Gärten der Finzi-Contini, vor 50 Jahren in deutscher Übersetzung erschienen, setzte er der jüdischen Gemeinde und ihrem Untergang in der einstmals legendär judenfreundlichen Stadt ein Denkmal aus eigenem Erleben. Bassanis Grab befindet sich unweit des nahezu intakten Stadtwalls auf dem jüdischem Friedhof des 16. Jahrhunderts in der Via delle Vigne.

architektur Das MEIS will die mehr als 2000-jährige Geschichte der jüdischen Gemeinschaft in Italien dokumentieren, die einen elementaren Beitrag zur nationalen Kulturgeschichte geleistet hat. Ebenso sollen jüdische Einzelschicksale aus allen Jahrhunderten gezeigt werden. Ein modernes interaktives Ausstellungsdesign wird es den Besuchern ermöglichen, Archivmaterial zu sichten und mit dem iPad zu kopieren und zu fotografieren.

Für die Architekten des römischen Studios «scape» ist die Basisaufgabe, ausgehend von der Gefängnisarchitektur, den negativ codierten geschlossenen Raum urbanistisch aufzubrechen und pietätvoll zu ikonisieren: Einzelne Gefängniszellen und -mauern bleiben erhalten. Das rund 33 Millionen Euro teure, fast 10.000 Quadratmeter umfassende Projekt versteht sich als gebautes Buch der Erinnerungen, das symbolisch auf den fünf Büchern Mose ruht, was in der Architektur zum Ausdruck kommt. Ein Park nach dem Vorbild italienischer Renaissancegärten gehört als «Geschenk an die Stadt» dazu.

Dabei will das MEIS jedoch mehr sein als eine bloße Ausstellungsstätte. Konzipiert als lebendiger Ort der Begegnung soll das Museum mit Auditorium, Bibliothek und Restaurant ein neuer gesellschaftlicher Treffpunkt über Ferrara hinaus werden. Das alljährliche Fest des jüdischen Buches gehört neben Kulturveranstaltungen, Lesungen oder jüdischem Tango bereits jetzt zum Programm. Die Museumsstiftung mit der stilisierten Menora im Logo will das MEIS zudem auch zum Forschungszentrum für italienisch-jüdische Geschichte und Kultur entwickeln.

schloss Das Museum ist Teil des historischen jüdischen Bezirks in Ferrara. Zu diesem gehört auch das ehemalige Ghetto, 1627 eingerichtet, nachdem Ferrara an den Kirchenstaat fiel, der die von der Familie Este geübte Toleranz beendete. Das gepflegte Viertel ist in seiner Bausubstanz gut erhalten und auch wegen des Kopfsteinpflasters am Besten fußläufig zu erkunden.

Das Rad braucht man, um zum jüdischen Friedhof zu gelangen und sich dort zurückzuversetzen in die Zeit, in der Giorgio Bassani seine Helden Micol und Alberto in die Pedale treten lässt. Zu den wenigen authentischen Schauplätzen in De Sicas Verfilmung zählt das Residenzschloss der Este mit seinen Wassergräben. Im Gründungsjahr des MEIS hat die im vorigen Jahr verstorbene italienische Museumsarchitektin Gae Aulenti die Anlage umfassend restauriert sowie das Leben am Hofe und die Kunstschätze vorbildlich für das 21. Jahrhundert aufbereitet. Das Schloss der Este ist der ästhetische und didaktische Referenzpunkt des MEIS, ebenso Landmarke wie hochsymbolischer Ort. Zwischen beiden Bauten spannt sich die wechselvolle Geschichte des italienischen Judentums.

www.meisweb.it

Musik

»Piano Man« verlässt die Bühne: Letztes Billy-Joel-Konzert

Eine Ära geht zuende: Billy Joel spielt nach zehn Jahren vorerst das letzte Mal »Piano Man« im New Yorker Madison Square Garden. Zum Abschied kam ein Überraschungsgast.

von Benno Schwinghammer  26.07.2024

Zahl der Woche

16 Sportarten

Fun Facts und Wissenswertes

 26.07.2024

Lesen!

Ein gehörloser Junge und die Soldaten

Ilya Kaminsky wurde in Odessa geboren. In »Republik der Taubheit« erzählt er von einem Aufstand der Puppenspieler

von Katrin Diehl  25.07.2024

Ruth Weiss

»Meine Gedanken sind im Nahen Osten«

Am 26. Juli wird die Schriftstellerin und Journalistin 100 Jahre alt. Ein Gespräch über ihre Kindheit in Südafrika, Israel und den Einsatz für Frauenrechte

von Katrin Richter  25.07.2024

Streaming

In geheimer Mission gegen deutsche U-Boote

Die neue Action-Spionagekomödie von Guy Ritchie erinnert an »Inglourious Basterds«

von Patrick Heidmann  25.07.2024

Bayreuth

Das Haus in der Wahnfriedstraße

Die Debatten um Richard Wagners Judenhass gehen in eine neue Runde. Nun steht sein antisemitischer Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain im Fokus

von Axel Brüggemann  25.07.2024

Sehen!

»Die Ermittlung«

Der Kinofilm stellt den Aussagen der Zeugen die Ausflüchte der Angeklagten gegenüber

von Ayala Goldmann  25.07.2024

Kommentar

Der »Spiegel« schreibt am eigentlichen Thema vorbei

In seiner Berichterstattung über das Abraham-Geiger-Kolleg konstruiert das Magazin eine Konfliktlinie

von Rebecca Seidler  25.07.2024 Aktualisiert

Literatur

Dieses Buch ist miserabel. Lesen Sie dieses Buch!

Eine etwas andere Kurzrezension von Ferdinand von Schirachs Erzählband »Nachmittage«

von Philipp Peyman Engel  24.07.2024 Aktualisiert