Erinnerung

»Die Menschen wollten sehen, wo Anne Frank starb«

Vor 70 Jahren wurde in Bergen-Belsen die bundesweit erste KZ-Gedenkstätte errichtet

von Michael Althaus  24.11.2022 13:09 Uhr

Elke Gryglewski, Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen Foto: picture alliance/dpa

Vor 70 Jahren wurde in Bergen-Belsen die bundesweit erste KZ-Gedenkstätte errichtet

von Michael Althaus  24.11.2022 13:09 Uhr

Vor 70 Jahren wurde im niedersächsischen Bergen-Belsen die bundesweit erste KZ-Gedenkstätte errichtet. Bundespräsident Theodor Heuss eröffnete das Denk- und Mahnmal am 30. November 1952. Im Interview mit dieser Zeitung erklärt die heutige Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen, Elke Gryglewski, dass damit noch lange keine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit begann. Zudem berichtet sie von zunehmenden Angriffen auf die Gedenkstätte heute und wagt einen Blick in die Zukunft.

Frau Gryglewski, wie kam es, dass in Bergen-Belsen 1952 die bundesweit erste KZ-Gedenkstätte eingerichtet wurde?
Das hängt mit der besonderen Geschichte des Ortes zusammen. In Bergen-Belsen gab es nach 1945 ein sogenanntes Displaced Persons Camp für Überlebende. Damit blieben viele ehemalige Häftlinge noch lange in der Region. Sie stellten schon 1945 und 1946 erste Mahnmale auf und forderten von der britischen Besatzungsmacht eine Neugestaltung des Lagergeländes. 1952 wurden der Obelisk und die Inschriften-Wand errichtet, die es auch heute noch gibt.

Welche Bedeutung hatte die Einrichtung damals gesellschaftlich und politisch in der Bundesrepublik?
Keine signifikante. Besucher kamen erst vermehrt, nachdem 1955 die Taschenbuch-Ausgabe des Tagebuchs von Anne Frank erschien. Die Menschen wollten sehen, wo Anne Frank starb.

Ist es richtig, dass die Gedenkstätte lange von Vernachlässigung geprägt war?
Ja. Auf dem Großteil des ehemaligen Lagergeländes passierte erst mal nichts. Eine Ausstellung kam erst 1966, aber auch nicht in der Form, wie man sich das heute vorstellt. Es gab kein pädagogisches oder wissenschaftliches Personal, sondern nur einen Hausmeister. Der hatte offiziell auch die Aufgabe, Besucher-Fragen zu beantworten. Inwieweit er das konnte, vermag ich nicht zu sagen. Erst Ende der 1980er-Jahre wurde in der Gedenkstätte auch Personal angestellt.

Wie ist die Situation heute?
Wir sind insgesamt gut ausgestattet und können Forschungs- und Bildungsarbeit leisten. Angesichts steigender Personal- und Energiekosten haben wir dennoch finanzielle Bedarfe. Vor Corona hatten wir rund 230.000 Besucherinnen und Besucher im Jahr. Dieser Zahl nähern wir uns nach einem pandemiebedingten Einbruch wieder an. Die in der Corona-Zeit entwickelten, digitalen Formate werden auch angefragt. Die große Frage ist, wie es weitergeht. Gedenkstätten müssen mit ihrer Arbeit immer auch auf gesellschaftliche Diskurse reagieren. Zu Beginn der Corona-Pandemie waren die Querdenker sehr laut; seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs wird die rechtspopulistische Bewegung wieder stärker.

Das Erstarken des Rechtspopulismus ist ja eine Entwicklung, die sich schon seit Jahren abzeichnet. Sehen Sie dadurch die Gedenkstättenarbeit in Gefahr?
Von Gefahr würde ich nicht sprechen, aber wir müssen sehr aufmerksam verfolgen, was passiert.

»Die Angriffe auf die Gedenkstätte nehmen zu und erreichen eine neue Qualität.«

Was meinen Sie konkret?
Die Angriffe auf die Gedenkstätte nehmen zu und erreichen eine neue Qualität. Dazu tragen auch die Sozialen Medien bei. In diesem Jahr gab es zwei Fälle, in denen Rechtsextreme Fotos auf dem Gelände gemacht und in den Sozialen Medien gepostet haben. Drei Personen haben mit einem Transparent vor dem Eingang der Gedenkstätte gegen einen vermeintlichen Schuldkult in Deutschland protestiert. Ein anderer Neonazi hat sich beim Anne-Frank-Gedenkstein ablichten lassen und das Bild mit mehr als problematischen Äußerungen ins Netz gestellt.

Wie haben Sie darauf reagiert?
Wir haben in beiden Fällen Anzeige erstattet.

Und was setzen Sie langfristig einem erstarkenden Rechtspopulismus entgegen?
Jemanden, der eine überzeugte rechte oder antisemitische Haltung hat, werden wir im Rahmen eines Besuchs unserer Gedenkstätte nicht verändern. Bei der großen Gruppe der Unentschiedenen können wir hingegen ein demokratisches Bewusstsein schaffen. Und diejenigen, die eine demokratisch-tolerante Haltung haben, können wir in ihrer Position festigen.

Wie verändert das Sterben der Zeitzeugen die Gedenkstättenarbeit?
Da sind wir in einer besonderen Situation. Bergen-Belsen war ein sogenanntes Austauschlager für jüdische Häftlinge, die gegen deutsche Kriegsgefangene im Ausland ausgetauscht werden sollten. Dadurch waren sehr viele Kinder hier, die heute noch leben. An einem Treffen im September haben rund 60 Überlebende teilgenommen.

Aber auch die werden in absehbarer Zeit sterben.
Das stimmt. Allerdings haben vor allem unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Kontakt zu den Überlebenden. Der Großteil unserer Besucherinnen und Besucher hatte nie das Privileg, Zeitzeugen zu begegnen. Für sie verändert sich nichts. Für unser Publikum ist es wichtiger, Zeitzeugnisse sehen zu können, zum Beispiel Briefe und Tagebücher.

Was halten Sie davon, sogenannte Hologramme von Überlebenden zu erstellen, also 3D-Animationen der Personen, die einem Algorithmus folgend Fragen beantworten?
Wenn man diese Hologramme einsetzt und so tut, als wären sie Zeitzeugen, finde ich das hochproblematisch. Es muss klar sein, dass es keinen Ersatz gibt für das persönliche Gespräch mit Überlebenden. Ihr Einsatz kann zum Beispiel sinnvoll sein in Seminaren, in denen man sich mit der Geschichte von Zeitzeugenschaft überhaupt auseinandersetzt und die Hologramme kritisch einordnet.

Was glauben Sie, wie sieht die Gedenkstätte Bergen-Belsen in 20 Jahren aus?
Ich bin sicher, dass wir eine neue Ausstellung haben werden. Die jetzige entspricht nicht mehr den Seh- und Lerngewohnheiten des Publikums. Außerdem hat sich die Art verändert, Täterschaft zu thematisieren. Aktuell werden die Täter nur sehr rudimentär behandelt. Dafür hatte man zum Entstehungszeitpunkt der Schau gute Gründe. Heute ist man der Auffassung, dass die Geschichte der Opfer nicht erzählt werden kann, ohne die Geschichte der Täter - und umgekehrt. Ich bin auch sicher, dass wir uns als Gedenkstätte noch stärker in gesellschaftlichen Diskursen positionieren und unsere Konzepte entsprechend weiterentwickeln werden.

Mit Elke Gryglewski, Vorsitzende der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten und Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen, sprach Michael Althaus.

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