»Pariser Symphonie«

Die Macht des Schicksals

Elf Erzählungen erscheinen erstmals auf Deutsch Foto: MANESSE

»Pariser Symphonie«

Die Macht des Schicksals

Irène Némirovskys Erzählungen atmen den Geist einer tiefen Menschlichkeit

von Harald Loch  30.05.2016 18:15 Uhr

Sie war eine der meistgelesenen Schriftstellerinnen in Frankreich – bis die aus Russland eingewanderte Jüdin 1940 Publikationsverbot erhielt, 1942 deportiert und am 19. August desselben Jahres in Auschwitz ermordet wurde. Der größte Teil der jetzt erstmals ins Deutsche übersetzten Erzählungen ist während dieser Zeit der Bedrohung durch die deutschen Besatzer entstanden. Einige wenige sind – unter Pseudonym – sogar noch veröffentlicht worden.

In den elf Erzählungen gelingt es Irène Némirovsky, ihre Protagonisten mit wenigen Sätzen unverwechselbar zu charakterisieren, die Handlung überraschend zu wenden und mit charmantem Ernst das Leben auf die Probe der Erträglichkeit zu stellen.

Die Geschichte »Der Freund und die Frau« etwa führt die beiden einzigen Überlebenden eines Flugzeugabsturzes in Sibirien zusammen. Kurz bevor der eine Mann seinen Verletzungen erliegt, beschwört er den anderen, seine Frau und baldige Witwe in Paris zu besuchen.

Deportation Nach einiger Zeit löst der Überlebende sein Versprechen ein – und findet die Witwe so unerträglich, dass er sich wenig später vor dem Strafrichter verantworten muss. Der Text ist 1942 entstanden, wenige Wochen vor der Deportation der Autorin, die ihr Schicksal zu diesem Zeitpunkt schon ahnte. Ihr Mann Michel, ein in Kiew geborener jüdischer Bankier, konnte sie nicht retten und wurde kurz nach ihr in Auschwitz ermordet. Das ist der Kontext, den der Leser der zarten, zurückhaltenden Übersetzung von Susanne Röckel stets mitliest.

»Echo« heißt eine andere, 1934 zuerst in einer Zeitschrift veröffentliche Erzählung, in der ein von seiner Mutter erniedrigter Mann die Leiden aus seiner Kindheit an seinen Sohn »weitergibt«. Die ganze Brutalität, zu der ein Angehöriger der französischen Bourgeoisie fähig war, beschreibt Némirovsky so minimalistisch gekonnt, wie es ein ganzer Roman nicht besser hätte ausdrücken können.

Erinnerung Die titelgebende »Pariser Symphonie« dagegen erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die einen zum Kriegsdienst gegen die Hitlerarmee eingezogenen Mann heiratet – plötzlich, vielleicht übereilt, jedenfalls nicht »in Weiß«. Ihre Mutter erinnert sich an ihre eigene erste Ehe, die vor Verdun ihr Ende durch den Tod ihres jungen Gatten fand. Die Autorin muss nicht aussprechen, wie absurd sie die Wiederholung des mörderischen Krieges nach einem knappen Vierteljahrhundert findet.

Im Jahr 1941 entstand »Die Diebin«, eine bestürzende Geschichte, wie Sandra Kegel in ihrem einfühlsamen Nachwort schreibt. Ein von seiner Großmutter adoptiertes Mädchen wird des Diebstahls einer großen Geldsumme beschuldigt. Ihre Mutter hatte Jahre zuvor auf demselben Gut als Magd gearbeitet und wurde wegen des Diebstahls einer wertvollen Brosche des Hofes verwiesen. Mit ihr hatte der früh gestorbene Sohn der Gutsherrin das später von ihr adoptierte Mädchen außerehelich gezeugt.

Die eigentlich strenge Herrin des Gutes hatte das Mädchen dennoch stets verwöhnt, bis das Kind sich zu dem Diebstahl an dem Geld bekennt und ihr Motiv offenbart: Ihre Mutter sei als Diebin vom Hof gejagt worden, weswegen sie stets unter der üblen Nachrede zu leiden hatte.

Jetzt sollte die Herrin eine Diebin in der eigenen Familie haben und der gleichen Schande ausgesetzt sein. Der Ausgang der Geschichte ist völlig überraschend – und reiht sie in die Reihe der großen Erzählungen der Weltliteratur ein. Überhaupt atmen alle in dem Band veröffentlichten Erzählungen den Geist einer tiefen Menschlichkeit und zeitlosen Eleganz. Große Literatur in kleinem Format.

Irène Némirovsky: »Pariser Symphonie«. Manesse, Zürich 2016, 240 S., 24,95 €

Eurovision Song Contest

CDU-Politiker: ESC-Boykott, wenn Israel nicht auftreten darf

Steffen Bilger fordert: Sollte Israel vom ESC ausgeschlossen werden, müsse auch Deutschland fernbleiben. Er warnt vor wachsenden kulturellen Boykottaufrufen gegen den jüdischen Staat

 18.09.2025

Ehrung

Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland für Tamar Halperin

Die in Deutschland lebende israelische Pianistin ist eine von 25 Personen, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 1. Oktober ehrt

von Imanuel Marcus  18.09.2025

Ausstellung

Liebermann-Villa zeigt Architektur-Fotografien jüdischer Landhäuser

Unter dem Titel »Vision und Illusion« werden ab Samstag Aufnahmen gezeigt, die im Rahmen des an der University of Oxford angesiedelten »Jewish Country Houses Project« entstanden sind

 18.09.2025

Debatte

Rafael Seligmann: Juden nicht wie »Exoten« behandeln

Mehr Normalität im Umgang miteinander - das wünscht sich Autor Rafael Seligmann für Juden und Nichtjuden in Deutschland. Mit Blick auf den Gaza-Krieg mahnt er, auch diplomatisch weiter nach einer Lösung zu suchen

 18.09.2025

Kino

Blick auf die Denkerin

50 Jahre nach Hannah Arendts Tod beleuchtet eine Doku das Leben der Philosophin

von Jens Balkenborg  18.09.2025

»Long Story Short«

Die Schwoopers

Lachen, weinen, glotzen: Die Serie von Raphael Bob-Waksberg ist ein unterhaltsamer Streaming-Marathon für alle, die nach den Feiertagen immer noch Lust auf jüdische Familie haben

von Katrin Richter  18.09.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 18. September bis zum 2. Oktober

 18.09.2025

Fußball

Mainz 05 und Ex-Spieler El Ghazi suchen gütliche Einigung

Das Arbeitsgericht Mainz hatte im vergangenen Juli die von Mainz 05 ausgesprochene Kündigung für unwirksam erklärt

 18.09.2025

Hochstapler

»Tinder Swindler« in Georgien verhaftet

Der aus der Netflix-Doku bekannte Shimon Hayut wurde auf Antrag von Interpol am Flughafen festgenommen

 18.09.2025